© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/21 / 17. Dezember 2021

Einwanderung ist hier Alltag
Die illegale Migration über die Kanarischen Inseln schwillt an: Ein starker Anziehungsfaktor ist die Entscheidung eines spanischen Gerichts
Hinrich Rohbom

Das Schlauchboot ist noch da. Verlassen liegt es an der Kaimauer im Hafen von Arguineguin, im Süden der Insel Gran Canaria. Erneut sind Migranten über die kanarische Inselgruppe im Nordatlantik nach Europa gelangt. Mittlerweile fast täglich sammeln Schiffe der Seenotrettungsorganisation „Salvamento Maritimo“ in internationalen Gewässern, unweit der afrikanischen Küste, Einwanderungswillige auf vollbesetzten Booten ein und transportieren sie in spanisches Hoheitsgebiet. Und damit in die Europäische Union.

Vor mehr als einem Jahr waren die Zahlen ankommender Migranten auf den Kanarischen Inseln sprunghaft in die Höhe geschnellt. Zum einen, weil Spanien in Zusammenarbeit mit Marokko den Mittelmeerraum inzwischen besser überwacht. 42.000 illegale Überfahrten von Migranten Richtung Spanien hat die marokkanische Küstenwache allein in diesem Jahr verhindern können. Die Folge davon ist aber auch eine neue westafrikanische Migrationsroute, die seitdem neben den von Marokko aus startenden Booten nun aus den weniger stark bewachten Regionen der Westsahara, Mauretaniens oder dem Senegal ihren Ausgangspunkt nimmt.

23.000 Migranten hatten im vergangenen Jahr den Archipel erreicht. Heute zeigt sich: Die Kanaren als Einfallstor für illegale Zuwanderer nach Europa sind kein einmaliges Ereignis. Es ist Alltag geworden. Ein Alltag, der von den Medien inzwischen weitgehend vernachlässigt wird.

Der Grund: Die spektakulären Bilder von einer Menschentraube an Migranten, die schutz- und mittellos an der Kaimauer des Hafens von Arguineguin ausharren, gibt es nicht mehr. Keine Marokkaner und Schwarzafrikaner mehr, die gruppenweise in den berühmten Touristengebieten von Maspalomas und Playa del Ingles umherstreifen. Auch in Unterkünften wie dem Waikiki-Hotel in Playa del Ingles sind jetzt wieder Touristen statt Zuwanderer anzutreffen. Alles wieder normal, alles in Ordnung, könnte man meinen.

Oder doch nicht? Die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Bis Anfang Dezember erreichten erneut mehr als 20.000 illegale Migranten die Kanaren. Jedoch hat sich die Logistik innerhalb eines Jahres erheblich verändert. Eine Logistik, die nun für eine geräuschlosere Abwicklung der Ankunft und Weiterreise illegaler Migranten nach Europa sorgt.

Mit Schlepperdiensten verdienen afrikanische Fischer ein Zubrot

„Die sind hier gestern angekommen“, erzählt der JF ein auf seinem Boot sitzender Deutscher mit Blick auf die Kaimauer. „Mehrere Dutzend“ Migranten, die „Salvamento Maritimo“ mitsamt dem lädierten Schlauchboot aus dem Atlantik geborgen hatte. Wasserpfützen schwappen durch den seichten Wellengang im Inneren des Bootes hin und her. Am hinteren linken Teil des Gummiwracks ist die Luft entwichen. Schwarze Benzinkanister liegen zwischen Rettungsringen, durchnäßten Decken, blauen Jeans, einer Flecktarnjacke und Plastiksäcken herum. Dahinter: Ein kleines Holzboot, das kieloben auf der Wasseroberfläche schwimmt.

„Damit hätten die es niemals geschafft, beide Boote sind vollkommen hochseeuntauglich“, meinen zwei in der Nähe arbeitende Fischer, die das tägliche Migrationsdrama auf den Kanaren hautnah mitbekommen. Ihre Einschätzung: „Die können sich nur für kurze Zeit auf hoher See aufgehalten haben. Über einen längeren Zeitraum hat man mit so schlechter Ausrüstung auf dem Atlantik keine Chance.“ Westafrikanische Fischer würden sich jedoch als Schlepper betätigen, die Migranten auf das offene Meer hinausfahren und sie dort in internationalen Gewässern aussetzen.

„China und die EU haben in der Gegend Fangrechte erworben. Dadurch wird bei denen der Fisch und somit die Einnahmen knapp.“ Mit Überfällen und Schlepperei würden sich die Leute dort ein weiteres Zubrot verdienen, sind auch andere kanarische Fischer in den Häfen von Arguineguin und Puerto Rico überzeugt.

Ein Blick auf die Internetseite www.vesselfinder.com scheint ihre Aussagen zu bestätigen. Die dort beobachtbaren Schiffsbewegungen zeigen: Fast täglich fahren Rettungsschiffe von „Salvamento Maritimo“ weit in internationale Gewässer. So weit, daß sie der afrikanischen Küste oft deutlich näher sind als den Kanarischen Inseln. Und ebenfalls fast täglich bringen sie von dort neue Migranten mit nach Europa.

Das war vor einem Jahr noch anders. „Die Migranten kamen zumeist mit hochseetauglichen Booten bis vor die Küste“, erzählen die kanarischen Fischer. Die JF war damals Zeuge solcher Anlandungen. Die Rettungsschiffe operierten vor der Küste Gran Canarias, Fuerteventuras oder Lanzarotes, Helikopter überflogen das Küstengebiet.

Wenn Migranten jetzt deutlich näher an der afrikanischen Küste und dazu noch in weitaus weniger robusten Booten aufgelesen werden, spricht vieles für einen neuen Pull-Faktor im Atlantik. „Unter Seeleuten wird ja schon seit längerem diskutiert, ob solche Boote sich tatsächlich in Seenot befinden“, erklärt ein Deutscher, der als nautischer Offizier auf einem Handelsschiff den Atlantik und das Mittelmeer befährt und 2015 noch im Dienste der Deutschen Marine im Rahmen der „Operation Sophia“ zur Bekämpfung von Schleusern im Einsatz gewesen ist.

„Schleuser sehen über AIS, wenn Schiffe in Nähe der afrikanischen Küste entlangfahren und schicken dann ihre Boote mit den Migranten los.“ AIS steht für Automatic Identification System, ein Funkdienst, über den die Position der Schiffe auszumachen ist und dessen Dienste auch sogenannte Aktivisten aus der „Refugees welcome“-Szene nutzen. Wie etwa im Falle des Projekts „Alarm Phone“, eine Art Call-Center, das europäische Rettungsschiffe und in der Nähe befindliche Frachtschiffe darüber informiert, daß sich „Geflüchtete“ in Seenot befänden, ihnen die Position mitteilt und auf die Verpflichtung zur Rettung hinweist.

Abgelegene frühere Militärlager sind zu Auffanglagern geworden

Berichte aus dieser Szene zeigen: Die „Aktivisten“ sind auch im Atlantik aktiv und sorgen somit für das Entstehen eines neuen Pull-Faktors. Die Migranten setzen sich dabei bereits am Tag ihrer Abreise mit „Alarm Phone“ in Verbindung. „Schiffbrüchigen muß geholfen werden“, erläutert der nautische Offizier das Dilemma der oft nur mit geringer Besatzung fahrenden Handelsschiffe. „Wenn da plötzlich 250 Leute an Bord kommen und versorgt werden müssen, ist die Mannschaft damit vollkommen überfordert.“ Manche Besatzungen würden daher auch schon mal AIS abschalten oder die Kanaren westlich umfahren, um nicht in diese Konfliktsituation zu geraten.

„Die Medien berichten immer nur dann, wenn es zu Unglücken kommt und Menschen ertrinken. Das ist natürlich tragisch. Aber was kaum einer sagt ist, daß die meisten Migranten Tag für Tag sicher ankommen“, beklagen die beiden Fischer eine oftmals eindimensionale Berichterstattung. So stehen über 900 Ertrunkenen mehr als 20.000 Migranten gegenüber, denen die illegale Einreise nach Europa gelungen ist. In beiden Fällen dürfte die Dunkelziffer deutlich höher liegen.

Daß die Migrationskrise auf den Kanaren aus dem Fokus der Medien weitgehend verschwunden ist, hat vor allem mit dem inzwischen erfolgten Aufbau einer funktionierenden Logistik zu tun. Ehemalige Militärlager wurden zu Auffanglagern umfunktioniert, in denen sich derzeit rund 3.000 Migranten aufhalten sollen. Industriehallen werden als Quarantäne-Stationen für die neu Angekommenen genutzt – gut abgeschottet von der Bevölkerung, weit abgelegen von Touristen.

Weitere Migranten werden in Gran Canarias Hauptstadt Las Palmas in Hostels einquartiert. „Wir hatten da eigentlich ein Zimmer nehmen wollen, aber es war alles belegt. Um diese Jahreszeit hatte uns das sehr gewundert“, schildern es zwei Rucksacktouristen. Der Grund dafür: Sämtliche Betten sind mit Schwarzafrikanern und Marokkanern belegt.

„Die Migranten treffen sich hier jeden Abend an der Treppe“, erzählt eine Anwohnerin an der Playa de las Alcaravaneras in der Nähe des Hafens der Stadt. Zumeist seien es Marokkaner. „Es ist ein Kommen und Gehen.“ Der Grund dafür: Inzwischen hat ein spanisches Gericht entschieden, daß die Migranten auch auf das spanische Festland weiterreisen dürfen. Das war im vergangenen Jahr noch anders. Lediglich 2.000 von ihnen gelangten damals auf den Kontinent. Inzwischen sind es bereits über 12.000. Die meisten von ihnen wollen weiter nach Frankreich, Großbritannien, in die Benelux-Staaten und nach Deutschland. Entsprechend verzeichnete Frankreich in diesem Jahr verstärkte Aktivitäten von illegalen Einreisen an der spanisch-französischen Grenze, Paris schloß als Folge davon bereits mehrere Grenzübergänge.

Wie die Staaten der Europäischen Union auf diese schleichend zunehmende Immigration reagiert, lesen Sie im zweiten Teil in der kommenden JF-Ausgabe.

Fotos: Migranten kommen im Hafen von Arguineguin auf der spanischen Insel Gran Canaria an; Verlassenes Schlauchboot im Hafen von Arguineguin: Nicht hochseetauglich; Szene im Hafenviertel von Las Palmas:    „Es ist ein Kommen und Gehen“