© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/21 / 17. Dezember 2021

Ein grünes Utopia in Berlin
Energy Watch Group: Skurrile Ideen für eine „bedarfsgerechte“ Stromvollversorgung bis 2030
Marc Schmidt

Wer berufsbedingt Studien lesen muß, hat bald eine sichere Erkenntnis: Der Auftraggeber beeinflußt das Ergebnis über den Auftrag und die damit verbundene Fragestellung. Was dann nicht ins Bild paßt, wird durch Annahmen passend gemacht. Die aktuelle Studie „100 Prozent Erneuerbare Energien für Berlin-Brandenburg bis 2030 – Bedarfsgerechte Vollversorgung aller Energiesektoren“ der Energy Watch Group (EWG) ist ein Paradebeispiel dafür. Während die Pressevorstellung und die fast gleichlautende mediale Berichterstattung die Überschrift als angebliche Tatsache oder zumindest Option feiern, wirkt die Studie des früheren grünen Bundestagsabgeordneten Hans-Josef Fell und „EWG Chief Economist“ Thure Traber selbst eher wie eine Mischung aus technischem Utopia und sanfter Öko-Diktatur.

Selbst die „Fridays for Future“-Schulschwänzer fordern „Nettonull“ erst für 2035. Doch wer die EWG-Studie nur für das grüne Wolkenkuckucksheim bezüglich Photovoltaik (PV), Inflation oder Umwandlungsverlusten kritisiert, greift jedoch zu kurz. Denn nicht nur die beiden exemplarisch bearbeiteten Bundesländer haben sich das Ziel der „Klimaneutralität“ gesetzt, sondern beispielsweise auch die chemische Industrie. Diese hat in Deutschland 465.000 gut bezahlte Beschäftigte und erwirtschaftet 190 Milliarden Euro. Deren Branchenverband VCI hat ausgerechnet, daß die Umstellung der Produktionsprozesse auf „erneuerbare Energien“ die gesamte derzeit im Durchschnitt verfügbare Menge an Ökostrom verbrauchen würde.

Allein dies macht alle Annahmen der EWG-Studie obsolet, denn die unterstellt, daß der Ökostrom aus Brandenburg in Berlin und Brandenburg (Biogas, Wind, Solar, Geothermie & Co.) nur regional genutzt wird. Der Strompreis pro Megawattstunde (MWh) werde angeblich bundesweit von 90 auf 75 Euro sinken, also um 17 Prozent, was derzeit kein Strommarkthändler für realistisch hält. Der Preisverfall ist laut EWG das Resultat einer Umstellung auf E-Mobilität und Wärmepumpen in der Region. Durch diese Investitionen würde der Gesamtenergieverbrauch der Region um 16 Prozent gegenüber dem heutigen Stand sinken.

Durch PV-Anlagen auf Gebäuden soll die Stromerzeugungskapazität in Berlin von 0,1 auf phantastische 11,9 Gigawatt (GW) steigen, im flächenmäßig 33mal größeren Brandenburg sollen aus 1,1 GW alsbald 27 GW werden. Realistischer scheint hier der Windkraftausbau: Er soll „nur“ von neun auf zwölf GW ausgebaut werden. Strom in Dunkelflauten sollen laut EWG vor allem Geothermie (0,7 GW) und Bioenergie (3,3 GW) sowie „grüner Wasserstoff“ und die „Optimierung des interregionalen Stromaustauschs“ liefern. Ob mit letzterem auch polnischer Kohle- oder tschechischer Atomstrom gemeint ist? Und was ist „bedarfsgerecht“? Strom nur noch, wenn genug davon im Netz ist?

Und was soll das Ganze kosten? Allein im Anlagenbereich, also ohne die verschiedenen Infrastrukturmaßnahmen, wollen die EWG-Studienautoren innerhalb von acht Jahren 112 Milliarden Euro ausgeben. Das wären 14 Milliarden jährlich – das entspricht in etwa dem ganzen Berliner Landeshaushalt. Sprich: Es wäre praktisch unbezahlbar. Die normalen öffentlichen Ausgaben müssen ja weiterhin finanziert werden. Daher verlangt die EWG die Mobilisierung privaten Kapitals in Höhe von rechnerisch 18.400 Euro pro Einwohner, vom Säugling bis zum Greis. Das sei kein Problem, denn schließlich liege das durchschnittliche Geldvermögen in Deutschland bei 95.000 Euro, sagt Hans-Josef Fell. „Dieses Vermögen liegt auf Banken und kann nicht richtig genutzt werden.“

Daß dieses angesparte Geld für die Rente, Anschaffungen, Notsituationen oder Reparaturen zurückgelegt wird, kommt dem früheren Physiklehrer aus Unterfranken nicht in den Sinn. Wie eine „geeignete politische Rahmensetzung“ aussehen könnte, um Privatkapital für die Energiewende zu mobilisieren, wird jedoch nicht verraten. Und wenn sich das Ganze wirklich lohnen würde, wären private Investoren aus aller Welt sofort zur Stelle. Doch wer will schon sein Geld für grünen Irrsinn à la EWG verbrennen?

 www.energywatchgroup.org

Foto: Feld mit Photovoltaikanlagen bei Berlin: Private Sparguthaben für die Energiewende?