© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/21 / 17. Dezember 2021

Ein Griff in die tiefen Taschen
Wirtschaftsregulierung: Konzerne wie Facebook sind in Europa und den USA unter Beschuß
Elliot Neaman

Die Ludwigshafener BASF ist der größte Chemie- und die Schweizer Roche Holding der größte Pharma-Konzern der Welt. Nestlé ist der weltgrößte Nahrungsmittelkonzern. Die staatliche Électricité de France (EDF) ist dank Atomkraft global der zweitgrößte Stromproduzent. Toyota und VW ringen seit Jahren um den Titel weltgrößter Autohersteller. Mercedes, BMW, Porsche und Lexus teilen das Premiumsegment unter sich auf. Airbus hat Boeing in der zivilen Luftfahrt abgehängt. Der deutsche Maschinenbau ist weiterhin weltweit praktisch konkurrenzlos.

Europa sei „Marktführer in zahlreichen Schlüsselbranchen. Mit einem Anteil von sechs Prozent der Weltbevölkerung steht die EU für ein Drittel der globalen ausländischen Direktinvestitionen. Im Welthandel sind wir der bedeutendste Exporteur von Industrieprodukten und Dienstleistungen“, erklärte kürzlich Jean-Dominique Senard, seit 2019 Chef der französisch-japanischen Autoallianz Renault-Nissan-Mitsubishi, im Handelsblatt. Doch den „Siegeszug von ‘Big Tech’ – Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft aus den USA sowie Baidu, Alibaba, Tencent und Xiaomi aus China – haben wir schlichtweg verschlafen“, klagte der 68jährige frühere Michelin-Präsident.

Die geplante EU-Richtline über digitale Dienste (Digital Markets Act/DMA) soll die nicht nur dem Franzosen Senard unheimliche Macht der globalen Internet-Konzerne begrenzen. Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager hat angekündigt, digitale Giganten ab acht Milliarden Euro Jahresumsatz und ab 80 Milliarden Euro Börsenwert via DMA zu regulieren. Doch auch in den USA wird das Klima für „Big Tech“ rauher. Denn im Mai dieses Jahres kündigte Frances Haugen ihren Job als Leiterin der Qualitätskontrolle bei Facebook. Zuvor lud sie Zehntausende Dokumente von einem internen Mitarbeiter-Tool namens Workplace herunter und ließ sie dem Wall Street Journal zukommen.

Und diese „Facebook Files“ lieferten europäischen wie amerikanischen Kritikern des Konzerns, der sich seit Oktober Meta nennt und auch Instagram, WhatsApp oder Oculus umfaßt, neue Munition. Haugen konnte während der Covid-Pandemie von ihrem Haus in Puerto Rico aus arbeiten. Nachdem sie im Homeoffice erfolgreich in Kryptowährungen investiert hatte und nun finanziell unabhängig war, beschloß sie, diese „Bombe“ platzen zu lassen: Facebook habe nicht genug getan, um die Verbreitung von Desinformationen zu stoppen. Dies habe sogar zu politischen Manipulationen bei den US-Wahlen 2016 und 2020 geführt. In Indien, Birma oder Äthiopien sei es durch solche Fahrlässigkeit sogar zu politischer Gewalt gekommen.

Diese Vorwürfe brachten Haugen Anhörungen im US-Senat und beim EU-Parlament ein. Daß sie Whistleblower wurde, überrascht eigentlich nicht: In der beschaulichen Kleinstadt Iowa City als Tochter eines Arztes und einer Pfarrerin der Episkopalkirche aufgewachsen, wurde sie schon von ihren High-School-Lehrern als hochintelligent beschrieben. In Debatten vertrat sie nur Positionen, die sie für moralisch hielt. Nachdem sie bei Google, Yelp und Pinterest gearbeitet hatte, wurde die Informatikerin 2018 von Facebook rekrutiert, um Teil eines Teams zu werden, das „moralische Integrität“ durchsetzten sollte. Als die Arbeitsgruppe aufgelöst wurde, schrillten bei ihr die Alarmglocken. Ihr Hauptvorwurf gegen Facebook ist, daß Algorithmen für die Nutzer so anpaßt werden, um die Werbeeinnahmen zu steigern. Doch das führe zu Onlinesucht, Depressionen bei Jugendlichen, der Verbreitung von Extremismus, Verschwörungstheorien oder Anti-Impf-Propaganda.

Eingriffe wie einst bei Standard Oil, AT&T oder „Big Tobacco“?

Aber kann eine 37jährige den riesigen Meta-Konzern, der an der Börse fast eine Billion Dollar wert ist, wirklich in Bedrängnis bringen? Selbst die EU tut sich ja bisher schwer. Für die Zerschlagung des Monopolisten Standard Oil Company von John Rockefeller und Henry Flagler waren vor 110 Jahren der Sherman Antitrust Act, ein energischer US-Präsident Theodore Roosevelt und ein Urteil des Supreme Court nötig. „Big Tobacco“ wurde in den 1990er Jahren hingegen durch Sammelklagen in die Knie gezwungen. Und die Tatsache, daß die Tabakkonzerne Milliarden von Dollar wert waren, spielte dabei ebenso eine Rolle wie die öffentliche Empörung über die Gesundheitsschäden und die riesigen Gewinnaussichten für amerikanische Anwaltskanzleien.

Auch der „Fall Facebook“ scheint lukrativ, denn das US-Rechtssystem bietet einige Klagemöglichkeiten gegen erfolgreiche Firmen „mit tiefen Taschen“. „Dieselgate“ hat VW bereits über 30 Milliarden Euro gekostet. Es gibt aber einen Unterschied: Die Tabakkonzerne waren sich der gesundheitsschädlichen Auswirkungen des Rauchens voll bewußt. Facebook-Chef Mark Zuckerberg hat vor dem US-Kongreß Fehler eingestanden. Und selbst Kritiker wie Haugen räumen ein, daß der Konzern Milliarden von Dollar für die Untersuchung der negativen Folgen von Online-Aktivitäten auf Facebook und Instagram ausgegeben hat.

Amerikanische wie europäische Regulierungsbehörden möchten den Meta-Konzern wie einst Standard Oil in kleinere Teile zerschlagen. Doch als der US-Telefon-Monopolist AT&T („Ma Bell“) 1984 aufgespalten wurde, wuchsen die „Baby Bells“ zu regional marktbeherrschenden Firmen heran, die möglicherweise sogar als Monopole zu definieren wären. Dasselbe würde könnte auch mit den „Baby Books“ passieren, die aus Zuckerbergs „Metaverse“ herausgerissen werden, denn die Digitaltechnik ist noch längst nicht an ihr Ende gekommen. Manche Kritiker glauben, daß Regulierungsbehörden wie die Food and Drug Agency (FDA) Social-Media-Firmen überwachen sollten, ähnlich wie Lebensmittel oder Medikamente in den USA. Andere wollen Facebook & Co. unter das Presserecht (Section 230) stellen, denn bislang können Anbieter von Informationsdiensten – im Gegensatz zu Zeitungen – nicht wegen Verleumdung verklagt werden. Doch das würde Facebook noch mehr Kontrolle erlauben.

Zuckerberg würde das sogar begrüßen: Mit klaren Richtlinien könnte sein Unternehmen dann weiterhin die riesigen Gewinne einfahren, die er sich so oder so erhofft, ohne sich weiter Gedanken über die mögliche Haftung zu machen. Doch die Geschichte staatlicher Eingriffe in die Privatwirtschaft zeigt, daß sie in der Regel zu spät erfolgen und fast immer auch unbeabsichtigte Folgen haben. Natürlich, ist es schwierig für Eltern, die Smartphones und Tablets ihrer Kinder „sauber“ zu halten – doch das war bei Büchern, Magazinen, Videos oder TV-Programmen ähnlich. Und kein Internetnutzer ist gezwungen, Facebook, Instagram & Co. zu nutzen. Bestehende oder neue Unternehmen können den Kunden künftig Besseres bieten – wenn weiterhin Konkurrenz und technische Entwicklung möglich ist.






Prof. Dr. Elliot Neaman lehrt europäische Geschichte an der University of San Francisco.

 www.protocol.com/facebook-papers

Foto: Ex-Facebook-Mitarbeiterin Frances Haugen im US-Kongreß: Sind amerikanische Gerichtsverfahren oder eine neue EU-Richtline wirkmächtiger?