© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/21 / 17. Dezember 2021

Ein hartes Ringen in den Anden
Chile: Der rechte Jurist José Kast und der junge Linkskandidat Gabriel Boric kämpfen unversöhnlich ums Präsidentenamt
Jörg Sobolewski

Die Stimmung im digitalen „War Room“ der Präsidentschaftskampagne ist angespannt, der Gesprächspartner aus der Aktionsplanung blickt ernst in die Laptop-Kamera: „Es wird ein hartes Ringen um jede Stimme, alles mögliche kann jetzt noch passieren. Ein falsches Statement und unsere Chancen auf den Sieg sind verloren.“ Auch dieser Unbeständigkeit sei  geschuldet, daß er seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will – nicht einmal in einer europäischen Zeitung. Niemand solle Interviews geben in dieser Zeit, außer dem Kandidaten selbst: José Antonio Kast Rist. Denn der 55jährige Gründer der rechten Acción Republicana befindet sich in einem Kopf an Kopf Rennen mit seinem linken Gegenkandidaten Gabriel Boric Font. Und sowohl die Medienlandschaft als auch die Passanten auf der Straße tun sich schwer mit einer Prognose.

Wenig Hoffnung auf Dialog und Einheit 

Das nach Uruguay zweitreichste Land Südamerikas (Wirtschaftsleistung pro Kopf: 15.617 Dollar) ist seit der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen im November tief gespalten. Die politischen Gräben ziehen sich gleich mehrfach durch das Anden-Land, zwischen Stadt und Provinz etwa. In den Großstädten Concepción und Valparaíso konnte sich mehrheitlich der 35jährige Sozialist Boric durchsetzen, auch in der Hauptstadt Santiago de Chile sprach sich eine Mehrheit für den Kandidaten des Linksaußen-Bündnisses Apruebo Dignidad aus. Abseits der großen Städte, etwa im Süden des Landes, triumphierte hingegen Kast, dessen Eltern aus Deutschland stammen.

Dabei kam es durchaus zu Überraschungen – in der Unruheregion Araucanía konnte sich das rechte Bündnis unter Kast mit mehr als vierzig Prozent durchsetzen. Dabei gilt die Region von der Größe Brandenburgs als Zentrum der Mapuche-Indianer, sie stellen allein ein Viertel der Bevölkerung. Im Vorfeld der Wahl hatte Apruebo Dignidad fest mit den Stimmen der Indigenen gerechnet, doch die „Law and Order“-Rhetorik des konservativen Rechtsanwalts Kast verfing sowohl bei Mapuche als auch bei deutschstämmigen Landwirten.

Doch kaum mehr als die Hälfte der Stimmen entfiel in der ersten Runde auf Kast und Boric, der Rest verteilt sich auf drei weitere Kandidaten: Franco Parisi, Sebastián Sichel und Yasna Provoste. Mit Parisi und Sichel gehören zumindest zwei offiziell einer eher konservativ-liberalen Strömung an, während die Christdemokratin Provoste als links der Mitte verortet wird. Besonders zwei der Kandidaten konnten sich vor allem im Norden des Landes beachtliche Erfolge verschaffen. In der Wüstenregion Antofagasta entfiel fast ein Drittel der Stimmen auf Franco Parisi. In der südlich anschließenden Region Atacama konnte sich Yasna Provoste mit etwas über einem Viertel der Stimmen durchsetzen.

Hier, im trocken-heißen Norden des 4.275 Kilometer langen Landes, tobt nun eine erbitterte Schlacht um jede Stimme. Bislang konnte dabei vor allem Kast punkten, ihm spielt auch die politische Vergangenheit seines Gegenkandidaten in die Hände. Vor vier Jahren hatte Boric, dessen Großvater Luis Borić aus Kroatien stammt, sich in einem umstrittenen Tweet nicht nur als „Internationalist“ bezeichnet, sondern sich außerdem dafür ausgesprochen, dem sozialistischen Nachbarland Bolivien einen „souveränen Zugang zum Meer“ zu gewährleisten. Viele Chilenen sehen darin eine Zusicherung, Teile des eigenen Territoriums aufzugeben. Dabei handelt es sich ausgerechnet um jene Gebiete, die im blutigen Salpeterkrieg vor etwa 140 Jahren erobert wurden.

Als „Landesverrat“ bezeichnen das einige. Im Norden verfängt die Rhetorik; hinzu kommt die Sorge um die Sicherheit der wichtigen Kupferminen des Landes. Die Wirtschaft des Nordens ist stark vom Export der Bodenschätze abhängig, eine Debatte um territoriale Konzessionen an den Nachbarn sorgt hier für Stirnrunzeln. Darüber hinaus sorgt sich der Mittelstand um die Folgen einer linken Machtübernahme in der Hauptstadt. Seit den schweren Unruhen in Santiago de Chile 2019 hat sich der chilenische Peso nicht erholt und fährt monatlich neue Tiefststände ein. Trotz eines Rekordpreises für Kupfer und andere Edelmetalle wird so der Kauf neuer Maschinen zum Einsatz in den Minen und Tagebauen des Landes immer teurer.

Auch deswegen rechnet die Quelle aus dem „Team Kast“ damit, daß die Mehrheit der Wähler von Parisi und Sichel eher zum rechten Kast tendieren. Rein rechnerisch würde dies reichen, doch die Gegenseite hat den Kampf gegen Kast zu einer Schicksalsschlacht um die Zukunft des Landes erklärt. Kast werde „die Uhren zurückdrehen“, befürchten Demonstrantinnen einer feministischen Kundgebung in der Hauptstadt. Es gehe um nichts weniger als die Wahl „zwischen Hoffnung und Angst“. Boric selbst setzt im Kampf um unentschlossene Wähler auf versöhnliche Töne: Er sei „angetreten, um Hoffnung, Dialog und Einheit voranzutreiben“, verkündet er auf einer Wahlkampfveranstaltung in der Hauptstadt.

Die Einheit des Landes zu erhalten wird für den Sieger der Stichwahl am 19. Dezember zu einer schier unlösbaren Aufgabe werden, denn die knappen Ergebnisse der ersten Wahlrunde spiegeln sich künftig auch im Parlament wider. Nach der Wahl zur Hälfte der Sitze im Senat und zum gesamten Abgeordnetenhaus sind linke und rechte Kräfte nun dort etwa gleich stark. Entscheidungen werden von einigen nicht eindeutig zuzuordnenden Abgeordneten abhängen, die sich ihre Unterstützung teuer bezahlen lassen werden.

 twitter.com/joseantoniokast

 boricpresidente.cl