© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/21 / 17. Dezember 2021

Notbündnis
Frankreich: Präsident Emmanuel Macron muß kommendes Jahr die EU-Ratspräsidentschaft zum Erfolg führen und die Präsidentschaftswahl überstehen
Friedrich-Thorsten Müller

Der französische Präsident Emmanuel Macron sieht sich und die EU gezwungen, angesichts der aktuellen Lage an der polnisch-weißrussischen Grenze, „an eine Neuorganisation zu denken, um den Migrationszuflüssen vorzubeugen und unsere Grenzen besser zu schützen“. Dafür reiste der Franzose, der ab Januar für ein halbes Jahr die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, zu einem Visegrád-Treffen (Polen, Slowakei, Tschechei und Ungarn) am Montag abend in Budapest. Macron sprach dort mit Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán über eine Zusammenarbeit in der EU-Asylpolitik. 

Trotz aller Meinungsunterschiede verbinde uns „der Wille zur Zusammenarbeit“, erklärte der Franzose. Orbán entgegnete, daß er auch das französische Streben nach strategischer EU-Autonomie in den wichtigen Feldern Verteidigung, Kernenergie und Landwirtschaft unterstütze.

In der Woche zuvor endeten die Antrittsbesuche von Bundeskanzler Olaf Scholz und Außenministerin Annalena Baerbock in Frankreich ebenfalls positiv für den Wahlkämpfer in Deutschlands westlichem Nachbarland. So wie es Tradition ist, daß neue deutsche Regierungen zuerst Paris ihre Aufwartung machen, so scheint es auch für die Ampelkoalition in Stein gemeißelt, außenpolitische Alleingänge ohne Abstimmung mit Frankreich zu vermeiden. 

Scholz und Macron bekundeten, sich für ein „stärkeres Europa“ einsetzen und „gleichgerichtet agieren“ zu wollen. Entsprechend konnte der französische Präsident die Deutschen zumindest vorerst in Sachen Rußland und China zur Mäßigung anhalten: Niemand solle die Lage in der Ukraine durch „sich am Ende selbsterfüllende Prophezeiungen“ eskalieren, so Macron. Auch einen diplomatischen Boykott der Olympischen Winterspiele in China werde es im Einklang mit Paris nicht geben.

Auf der Suche nach außenpolitischen Erfolgen

Wie gut, daß Bundeskanzler Scholz Außenpolitik zuvor zur Chefsache erklärt hatte, wissend, daß die grüne Außenministerin Baerbock gerne stärker auf Konfrontationskurs gehen würde. Will Macron nächstes Jahr als Präsident wiedergewählt werden, ist aber noch viel wichtiger für ihn, daß es in Sachen Migration, speziell in Osteuropa, nicht zu unkontrollierbaren Zuständen kommt. Kein Thema beschäftigt die Franzosen im Moment mehr. Gleich zwei von drei seiner aussichtsreichsten Herausforderer, Marine Le Pen und Éric Zemmour, machen massiv gegen unkontrollierten Zuzug Stimmung.  Aus diesem Grund sicherte er dem eigentlich in der EU geächteten ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán Unterstützung beim Grenzschutz zu.

Emmanuel Macron braucht, bei aktuell eher mäßigen Wahlumfragen, dringend Erfolge. Traditionell können Staats- und Regierungschefs als EU-Ratspräsidenten ihr außenpolitisches Profil schärfen und beim Wähler punkten. Und darauf ist Macron nach vielen geostrategischen Niederlagen der letzten Jahre dringend angewiesen. Am schwersten wiegt vermutlich das Mitte September bekanntgewordene Sicherheitsbündnis zwischen den USA, Australien und Großbritannien im Indopazifik, zu dem Frankreich nicht eingeladen wurde. Und dies, obwohl Frankreich dort über eine aussschließliche Wirtschaftszone um die Inselgruppen Französisch-Polynesien und Neukaledonien von neun Millionen Quadratkilometern mit 1,7 Millionen französischen Staatsbürgern verfügt. Zum Vergleich: Das französchische Kernland in Europa nimmt knapp 544.000 Quadratkilometer ein und beherbergt etwa 64 Millionen Einwohner.

Noch schlimmer, das neue Bündnis war von Australien zum Anlaß genommen worden, einen acht Millarden Euro schweren U-Boot-Deal mit Frankreich platzen zu lassen. Ähnlich unbefriedigend für die französische Öffentlichkeit ist das Hickhack mit Großbritannien um Migranten an der Kanalküste. Die Sogwirkung der englischen Sprache und des laxen Zugangs zum Sozialsystem vor allem auf Migranten aus früheren britischen Kolonien ist immens. Mit dem Rückstau der von den Briten nicht gewollten Migranten muß Frankreich schon seit Jahren klarkommen. Hinzu kommen seit dem britischen EU-Austritt Streitereien um Fischereirechte.

Ebenso erfolglos für die Grande Nation verläuft der schon acht Jahre dauernde Militäreinsatz in Mali, wo sich der Terror trotzdem immer weiter ausbreitet und bereits 50 französische Soldaten gefallen sind. Macron bemüht sich hier in seiner traditionellen Einflußzone Westafrika längst um Gesichtswahrung und darum, sich per eigenem Teilrückzug künftig hinter einer europäischen Eingreiftruppe (Takuba) zu verstecken. Sie war auf französischen Druck gegründet worden. Bisher umfaßt sie allerdings lediglich rund 600 Soldaten aus Frankreich, Italien, der Tschechei, Schweden und Estland.

Wie gut, daß Frankreich wenigstens an einer anderen Stelle im Moment etwas aufatmen kann. Das etwa 1.000 Kilometer vor der Ostküste Australiens liegende, wegen seiner Nickelvorkommen sehr wichtige Neukaledonien, hat sich gerade in einer Volksabstimmung für den Verbleib bei Frankreich ausgesprochen. Ob die dritte von drei den Ureinwohnern zugebilligten Volksabstimmungen die Lage dort dauerhaft befriedet, darf aber bezweifelt werden. Die Umfrage ging zwar mit 96 Prozent Zustimmung aus, wurde aber von einem Großteil der Wähler boykottiert. Nur 44 Prozent Wahlbeteiligung sind für solche einschneidenden Befragungen sehr wenig.

Foto: Emmanuel Macron und Viktor Orbán in Budapest: „Ein Wille zur Zusammenarbeit“