© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/21 / 17. Dezember 2021

Verstecke, Höhlen, Partisanen
Irak: Der Vielvölkerstaat kommt nicht zur Ruhe / Kooperation zwischen Arabern und Kurden
Marc Zoellner

Im Dunkel vor dem Morgengrauen begann die Offensive: Gemeinsam mit kurdischen Peschmerga, dem militärischen Arm der Autonomen Region Kurdistan, drangen Streitkräfte der irakischen Armee vorige Woche in mehrere ländliche Regionen des irakischen Gouvernements Diyala vor, um versteckte Schläferzellen der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ (IS) aufzuspüren. Das Gebiet von der Größe Thüringens, nordöstlich von Bagdad an der Grenze zum Iran gelegen, gilt als ethnischer Krisenherd des Irak. Bis zum Ende des Regimes des irakischen Diktators Saddam Hussein lebten hier mehrheitlich sunnitische Araber.

Im Anschluß an den US-geführten Einmarsch in den Irak formierte sich in Diyala der Hauptteil des islamistisch beeinflußten Widerstands sunnitisch-arabischer Stämme gegen die USA und ihre Verbündeten. Im Sommer 2007 schließlich ernannte der zum Al-Qaida-Netzwerk gehörende „Islamische Staat im Irak“ (ISI) Diyalas Hauptstadt Baquba zu seiner eigenen Hauptstadt. Die ISI-Strukturen gingen später beinahe nahtlos in den IS über – dessen Vertreibung aus Diyala nutzten die Peschmerga allerdings zur ethnischen Säuberung ganzer Regionen, welche nun kurdisch dominiert sind. Sowohl Bagdad als auch Erbil (Hewlêr), die Hauptstadt des Autonomen Kurdistan, beanspruchen das Gebiet seitdem für ihr eigenes Territorium.

Viele der verbliebenen sunnitisch-arabischen Familien werden seit dem Fall des IS-Kalifats allerdings auch von IS-Anhängern des „Verrats“ und der „Kollaboration“ bezichtigt und gezielt für Terrorakte an Zivilisten ausgesucht. Erst im Oktober überfielen Extremisten ein kleines Dorf im Nordosten Diyalas, ermordeten mindestens zwölf Menschen, darunter einen dreijährigen Jungen sowie dessen beinamputierten Großvater, und vertrieben mindestens 1.250 weitere Bewohner. Nur wenige Tage später kamen während eines Überfalls auf eine Siedlung schiitischer Iraker weitere 14 Menschen ums Leben.

„Die Terroristen lassen sich nicht in direkte Gefechte mit uns verwickeln, und sie haben auch keine bestimmten Positionen“, erklärt der kurdische Frontkommandeur Ahmed Hama Salih im Interview mit dem kurdischen Sender Rûdaw. „Sie führen einen Partisanenkrieg gegen uns. Doch nun sitzen wir nicht mehr nur in unseren Kasernen und schauen zu, wie der IS auf unsere Leute schießt.“ Daß der IS trotz seiner Zerschlagung im Jahre 2017 noch immer ungehindert in Diyala operieren kann, lastet die kurdische Autonomiebehörde dem mangelnden Kooperationswillen Bagdads an. „Es gibt eine gewaltige Sicherheitslücke zwischen uns und der irakischen Armee“, beklagte Ende Oktober noch der Peschmergakommandeur des Gouvernements Kirkuk (Kerkûk), Nuri Hama Ali. Extremisten hätten stets mehrere Tage Zeit, sich „Verstecke und Höhlen“ zu suchen, um schließlich, „sobald sich die Gelegenheit bietet, ihre schmutzigen Hände nach uns auszustrecken.“ Zwar stehen Erbil und Bagdad bereits seit Jahresbeginn in Verhandlungen zur Bildung gemeinsamer Truppenteile. Deren Formation, ursprünglich für die Zeit nach der Parlamentswahl vom 10. Oktober dieses Jahres geplant, wurde allerdings erneut von Bagdad verschoben.

Forderung nach Ausweitung der kurdischen Souveränitätsrechte

Die koordinierten Angriffe der irakischen sowie der kurdischen Truppen, die von der irakischen Luftwaffe unterstützt wurden und sich im Frontverlauf bis nach Kirkuk ausdehnten, wurden von beiden Parteien demzufolge als gelungener Anfangserfolg bewertet. „Es war der erste gemeinsame Einsatz dieser Art, der den Verhandlungen folgte“, begrüßte Peschmerga-Brigadegeneral Dilêr Şukur den raschen Vorstoß. „Wir sehen hier eine großartige Entwicklung.“ Seit dem 27. November starben bei Anschlägen durch IS-Schläferzellen mindestens 22 kurdische sowie mehrere irakische Soldaten. Die derzeitige Offensive, urteilen lokale Kommandeure, könnte den Widerstand der Islamisten endgültig brechen.

Die jüngsten Anschläge islamistischer Extremisten treffen den Irak zu einem höchst prekären Zeitpunkt: Auch zwei Monate nach der Parlamentswahl vom 10. Oktober gelingt es den führenden Parteien und Koalitionen noch immer nicht, sich auf eine neue Regierung zu einigen. Schuld daran war auch das neu eingeführte Wahlsystem. Konnten zu vorangehenden Parlamentswahlen Kandidaten mit hohem Stimmanteil ihre Wahlstimmen mit weniger erfolgreichen Kandidaten teilen, um somit beide Vertreter ins Parlament zu hieven, galten die Stimmabgaben im Oktober an den jeweils gewählten Kandidaten gebunden. Bereits im Vorfeld hatten sowohl das Parteienbündnis um den einflußreichen schiitischen Geistlichen Muqtada as-Sadr als auch der Patriarch der chaldäisch-katholischen Kirche des Irak, Louis Raphaël I. Sako, zum Wahlboykott aufgerufen – erstere aus taktischen, letzterer aus Sicherheitsgründen.

Mit rund 40 Prozent der abgegebenen Stimmen lag die Wahlbeteiligung auf dem niedrigsten Stand seit den ersten freien Wahlen des Irak vom Januar 2005. Die irakisch-nationalistischen Sadristen, die ihren Boykottaufruf später zurückzogen, konnten ihren Einfluß im Parlament gegen die schiitische Konkurrenz der pro-iranischen Fatah-Bewegung massiv ausbauen; unter anderem dank einer eigens entwickelten App, mit welcher Wähler die Effizienz ihrer Stimmabgabe auf einzelne Kandidaten zugeschnitten simulieren konnten. So überflügelte die Fatah mit 670.000 Wählerstimmen zwar anteilsmäßig die Sadristen mit 650.000 Stimmen. Einzug ins Parlament hielten aufgrund der Wahlreform später jedoch 73 Sadr-Abgeordnete; die Fatah konnte sich lediglich 17 Sitze sichern. Bei Protesten proiranischer Schiiten, welche die „Grüne Zone“ Bagdads erstürmen wollten, starben im Anschluß an die Wahl zwei Demonstranten. Im November folgte gar ein fehlgeschlagener Mordanschlag auf den irakischen Premierminister Mustafa al-Kadhimi mittels einer mutmaßlich im Iran produzierten, mit Sprengstoff beladenen Drohne. Die Klage der Fatah auf Wahlannullierung wird noch immer vor dem Verfassungsgericht des Irak verhandelt.

Der innenpolitische Druck wird überdies durch den Wahlerfolg der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) verschärft, die mit 31 errungenen Sitzen als stärkste Einzelpartei zur Parlamentswahl punktete. Die Autonome Region Kurdistan beharrt auf einer Ausweitung ihrer Souveränitätsrechte – und stößt dabei nicht nur in Bagdad, sondern auch im Ausland auf Widerwillen. Im Norden der irakischen Kurdengebiete unterhält die Türkei mehr als ein Dutzend Militärbasen, um gegen die linke kurdische Untergrundorganisation PKK vorzugehen. Ankara bezichtigt die Kurdenregierung der Untätigkeit gegen die PKK, obgleich Erbil im sogenannten Sinjar-Abkommen vom Oktober 2020 der Regierung in Bagdad zugesichert hatte, aktiv gegen PKK-Milizionäre auf dem Gebiet der Autonomen Region Kurdistan vorzugehen. Daß auch die PKK-Bedrohung im Irak nicht kleinzureden ist, bewies am Sonntag ein Anschlag in Sinjar (Şingal), bei die PKK zwei irakische Soldaten schwer verletzte sowie einen Panzer zerstörte.

Autonome Region Kurdistan: gov.krd

Foto: Protest in Bagdad gegen die Ergebnisse der irakischen Parlamentswahlen im Oktober: Mordanschlag auf den irakischen Präsidenten