© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/21 / 17. Dezember 2021

Die Preise bekommen Flügel
Wenn das Geld an Wert verliert: Eine Durchschnittsfamilie bezahlt heute für alles fünf Prozent mehr als vor Jahresfrist / Der Erdgaspreis sprang im November auf ein deutsches Rekordhoch
Markus Brandstetter

In diesem November ist die Inflationsrate auf über fünf Prozent gestiegen; Waren und Dienstleistungen kosteten exakt 5,2 Prozent mehr als ein Jahr davor, wie das Statistische Bundesamt in Wiesbaden mitteilt. Für das ganze Jahr 2021 liegen die Prognosen der Bundesbank und führender Wirtschaftsinstitute inzwischen bei mehr als drei Prozent. Das sind die höchsten Werte seit 1992, als der Nachfrageschub im Zuge der Wiedervereinigung für eine Inflationsrate von ebenfalls über fünf Prozent sorgte. Über das ganze Jahr 2021 hinweg ist die Inflationsrate im Vorjahresvergleich damit von Monat zu Monat gestiegen: lag sie im Januar noch bei einem Prozent, waren im April bereits zwei Prozent erreicht, und seit September liegen wir kontinuierlich über vier Prozent.

Bundesbank, Europäische Zentralbank (EZB) und das Statistische Bundesamt erklären diese Entwicklung liebend gern mit dem „Basiseffekt“. Damit ist die Tatsache gemeint, daß die Regierung wegen der Corona-Pandemie die Mehrwertsteuer im Juli 2020 erst gesenkt und im Januar 2021 wieder auf das alte Niveau erhöht hat, was bei einem Vergleich der Preise zwischen dem Vorjahr und diesem Jahr rechnerisch zu einer Preiserhöhung von drei Prozent führte – einer Preiserhöhung, die, wie diese Argumentation nahelegt, anscheinend nur auf dem Papier stattgefunden hat. Weit gefehlt! Jeder, der ab und zu essen geht, sein Auto volltankt oder auf seine Strom- und Gasrechnung blickt, weiß, daß für die Inflationsraten dieses Herbstes nicht statistische Effekte verantwortlich sind, sondern reale Preiserhöhungen, die im echten Leben schmerzhaft spürbar sind. 

Der Posten Energie hat sich binnen eines Jahres um 22 Prozent erhöht

Wie schmerzhaft, machen wir uns jetzt am Beispiel der Müllers aus Mannheim klar. Unsere Müllers haben nicht nur einen durchschnittlichen Namen, sie sind auch sonst statistisch in jeder Hinsicht durchschnittlich: Sie sind verheiratet, beide angestellt, haben zwei Kinder und wohnen zur Miete. Zusammen verfügen sie über ein monatliches Nettoeinkommen von 3.968 Euro, was in Baden-Württemberg exakt das Durchschnittseinkommen einer vierköpfigen Familie darstellt.

Die Müllers zahlen jetzt im Dezember für alles im Schnitt fünf Prozent mehr als im Jahr davor, aber sie müssen sich angeblich keine Sorgen machen, denn drei Prozent sind ja dem Basiseffekt geschuldet. Dieser Basiseffekt ist ein wunderschönes Narrativ für Statistiker, EZB-Direktoren, Bundesbanker und Journalisten, die keine Ahnung von Makroökonomie haben. Aber den Müllers hilft das nicht. Die merken nämlich jeden Tag, daß sich ihr Leben massiv verteuert hat.

Das fängt bei den Einkäufen im Supermarkt an, die laut Statistischem Bundesamt im November 2021 nur viereinhalb Prozent teurer waren als im November davor. Aber das ist Humbug, weil diese Zahl nur durch die geringe Gewichtung von Nahrungsmitteln im Warenkorb des Statistischen Bundesamtes zustande kommt, in dem Nahrungsmittel lediglich 8,5 Prozent der monatlichen Gesamtausgaben ausmachen. Das ist vollkommen unrealistisch, denn die Müllers kämen mit 8,5 Prozent von 3.968 Euro, also mit 337,28 Euro im Monat für Nahrungsmittel, nie über die Runden. Der wahre Wert liegt irgendwo um die 600 Euro, und da kaufen sie hauptsächlich bei Discountern ein.

Noch deutlich dramatischer wird es für die Müllers bei dem, was im Verbraucherpreisindex unter „Energie“ zusammengefaßt ist. Dieser Posten hat sich vom November des Jahres 2020 bis zum November dieses Jahres um 22 Prozent erhöht, also fast um ein Viertel. Mit „Energie“ meinen die Statistiker aus Wiesbaden Kraftstoffe und „Haushaltsenergie“, sprich Heizöl, Strom und Gas. Bei den Müllers, die beide am Tag mit dem Auto 20 Kilometer zur Arbeit fahren, schlagen die gestiegenen Benzinkosten voll zu Buche: Während sie im November 2020 noch 200 Euro an der Tankstelle ausgaben, sind es jetzt 280 Euro im Monat. Und das ist in puncto Energie noch lange nicht alles, denn auf die Müllers wartet im Mai 2022, wenn ihr Vermieter ihnen die Nebenkostenabrechnung präsentiert, eine Nachzahlung von 700 Euro. Schließlich wird ihr Haus mit Erdgas geheizt, und der Preis für die Kilowattstunde hat sich von 5,47 Cent im November 2020 auf 8,83 Cent im November 2021 erhöht – der höchste Preis, den es je in Deutschland gab.

Aber die Müllers brauchen die Statistiker mit ihren dürren monatlichen Bulletins ohnehin nicht. Sie wissen auch so, daß sie seit Monaten zwar genausoviel Geld wie vor einem Jahr im Portemonnaie haben, damit aber über viel weniger Kaufkraft verfügen. Zum Beispiel beim Essengehen. Noch vor zwei Jahren haben die Müllers bei ihrem Lieblingsitaliener zu viert für 80 Euro gegessen und getrunken. Das ist längst anders. Nach einem Pächterwechsel und zwei Lockdowns kostet der Pizzaabend für die ganze Familie inzwischen über hundert Euro, ohne daß sich an Menge und Qualität von Speisen und Getränken irgend etwas geändert hätte. Wenn die Müllers ihr heutiges Leben mit dem im Jahr 2019 vergleichen, als die Inflationsrate unter zwei Prozent gelegen hatte, dann wissen sie, daß sie in der Zwischenzeit 400 bis 500 Euro an Kaufkraft eingebüßt haben – ohne mehr zu verdienen.





Kalte Progression, Inflation und Steuermehrbelastung

Als „kalte Progression“ wird laut Bundesfinanzministerium der „Anstieg des durchschnittlichen Steuersatzes der Einkommensteuer bezeichnet, der auf Lohn- und Gehaltserhöhungen zurückzuführen ist, die lediglich den Preisanstieg (Inflation) ausgleichen“ (Monatsbericht des BMF 12/20). Sprich: Dieser Effekt ist eine „heimliche“ Steuererhöhung für Normal- und Gutverdiener, denn bekommen diese eine Gehaltserhöhung, dann ist diese Netto kaum spürbar, weil höhere Steuern und Geldentwertung den Bruttozuwachs aufzehren. Daher werden die Steuertarife jährlich angepaßt, um die „kalte Progression“ etwas auszugleichen. Dennoch waren laut dem „Vierten Steuerprogressionsbericht“ 2020 noch 10,1 Millionen Steuerpflichtige davon betroffen. Für 2021 hatte die Bundesregierung mit einer „Preisentwicklung der Konsumausgaben“ von nur 1,17 Prozent gerechnet und den Progressionsausgleich entsprechend niedrig angesetzt. Doch die Inflationsrate lag im November schon bei 5,2 Prozent, nach EU-Berechnung (HVPI) waren es sogar 6 Prozent. Die „kalte Progression“ ist daher im laufenden Jahr für viele besonders spürbar. (fis)

Foto: Muster-Familie Müller aus Mannheim war beim Einkaufen: Das Statistische Bundesamt trickst durch die geringe Gewichtung von Lebensmitteln im Warenkorb – die vierköpfige Familie kommt nicht mit den statistisch zugestandenen 337 Euro monatlich für Nahrungsmittel aus.