© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/21 / 17. Dezember 2021

Keiner hielt ihn auf
Islamistischer Terror: Auch fünf Jahre nach dem Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt in Berlin sind viele Fragen offen
Ronald Berthold

Viele Fragen bleiben, und die Wunden verheilen nicht. Ende Oktober starb mit Sascha Hüsges ein weiterer Besucher des Berliner Weihnachtsmarktes an den Folgen des Terroraktes. Der 49jährige ist das 13. Opfer, das zu Tode kam. 54 weitere Menschen wurden rund um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zum Teil schwer verletzt. Manche werden nie wieder gesund.

Bis jetzt konnten die Hintergründe der islamistisch motivierten Tat des 2015 als „Flüchtling“ eingewanderten Anis Amri nicht aufgeklärt werden. Denn im nachhinein häuften sich merkwürdige politische Aktivitäten. Das Attentat vom Breitscheidplatz mit einem gekaperten Lkw jährt sich am Sonntag zum fünften Mal.

Während der polnische Lastwagen-Fahrer Lukasz Urban, das erste Opfer des Tunesiers, in seiner Heimat ein Begräbnis im Beisein des Staatspräsidenten Andrzej Duda inklusive Lkw-Konvoi erhielt, durften die Angehörigen der deutschen Toten nicht einmal am Gedenkgottesdienst teilnehmen. Begründung: Gefahr für die anwesenden Politiker. Es dauerte lange, bis sich die damalige Kanzlerin Angela Merkel auf öffentlichen Druck dazu durchrang, Verwandte zu empfangen. Noch Jahre später wurden diese sogar aus Talkrunden mit der CDU-Politikerin wieder ausgeladen. Auch zur Beerdigung der von dem damals knapp 24jährigen Tunesier getöteten Fabrizia di Lorenzo in Italien erschien der Staatspräsident. In Deutschland lief es anders: Das erste, was die Hinterbliebenen der Deutschen vom Staat bekamen, waren die Rechnungen für die Autopsie der Ermordeten.

Die Leichen vom Breitscheidplatz waren die falschen Opfer. Schon die anderen Tötungsverbrechen von Teilen der seit 2015 massenhaft eingewanderten, vorwiegend muslimischen Männer, wurden als „Einzelfälle“ abgetan. Eine Kritik an den Folgen der Politik der offenen Grenzen gilt bis heute als rechtsradikale Instrumentalisierung eines humanen Aktes. Die Schlußfolgerung, daß ohne „Refugees welcome“-Hype all die Menschen noch leben könnten, die den im Zuge der Asylkrise eingereisten Attentätern zum Opfer fielen, bekam den Stempel „Verschwörungstheorie“.

Insofern konnte der verheerende Anschlag vom 19. Dezember 2016 nie zum Menetekel einer gescheiterten Flüchtlingspolitik werden. Zwar war der Fall Amri nicht untypisch für das Verhalten mancher Einwanderer. Um möglichst viel Sozialhilfe zu bekommen, legten sie sich verschiedene Identitäten zu. Amri kassierte unter mindestens 14 Alias-Namen ab. Sein Alter hatte er bei seiner Einreise nach Italien 2011 gefälscht, um als unbegleiteter Flüchtling Vorteile zu erhalten. Dort verurteilte ihn ein Gericht wegen Brandstiftung, Körperverletzung und Diebstahl zu vier Jahren Haft. Nach seiner Freilassung ging er über die Schweiz nach Deutschland, in das Land der Willkommenskultur. Auch hier wurde er mit Drogenhandel und anderer Kriminalität polizeibekannt – ohne Folgen. Amri blieb ein freier Mann.

Ein Staatsversagen durfte es nicht sein

Aber die offensichtlichen Probleme zu diskutieren, daran hatten die Befürworter in den Medien und der Politik kein Interesse. Erst recht nicht nach dem Berliner Weihnachtsmarkt-Attentat. Es hätte das Eingeständnis eines schweren Irrtums und – viel schlimmer – die Konsequenz bedeutet, die Kritiker könnten im Recht gewesen sein. Bis heute wird Angela Merkel in den Bilanzen ihrer Kanzlerschaft vor allem für ihr „Wir schaffen das“ gewürdigt.

Drei Untersuchungsausschüsse, zwei in den Landtagen von Berlin und Nordrhein-Westfalen sowie einer im Bundestag, haben sich an dem Anschlag abgearbeitet. Und dort wurden, wenn auch erneut nicht breit diskutiert, weitere Ungeheuerlichkeiten bekannt. Den bereits in Tunesien in Abwesenheit zu fünf Jahren Haft verurteilten Amri stuften deutsche Behörden bereits 13 Monate vor der Berliner Tat als „Gefährder“ ein, seine Kontakte zum „Islamischen Staat“ (IS) waren bei der Polizei bekannt. Doch niemand hielt ihn auf – auch nicht, als Ermittler mithörten, daß er gegenüber Glaubensbrüdern ein (Selbstmord-)Attentat ankündigte. Inzwischen gilt es als erwiesen, daß ihn die Terrororganisation steuerte. Diese bezeichnete ihn kurz nach der Tat als ihren „Soldaten“.

Der Abschlußbericht des Bundestags-Untersuchungsausschusses kam zu dem Ergebnis, „Fehleinschätzungen und Versäumnisse“ hätten dazu geführt, daß Amri trotz aller Erkenntnisse zum 13fachen Mörder werden konnte. Aber diese seien „individuell“ verursacht. Ein Staatsversagen durfte es nicht sein. Den Antrag der AfD, Merkel als Zeugin zu hören, lehnten alle anderen Fraktionen ab. Einen anderen wichtigen Zeugen, Amris mutmaßlichen Komplizen Bilal Ben Ammar, konnten die Abgeordneten ebenfalls nicht befragen. Er wurde – was sonst fast immer scheitert – rekordverdächtig schnell nach Tunesien abgeschoben, wo er sofort untertauchte. Ammar hatte nicht nur am Tag vor dem Anschlag mit Amri zu Abend gegessen, sondern den Breitscheidplatz auch aus jenem Winkel fotografiert, in dem dieser in den Weihnachtsmarkt raste. Besonderes Interesse an der Abschiebung hatte, wie aus E-Mails hervorgeht, die damalige Staatssekretärin im Bundesinnenministeriums, Emily Haber. Nachdem Ammar außer Landes war, wurde sie deutsche Botschafterin in den USA.

Dieser Tage nun sorgt ein Bericht für Aufsehen, dem zufolge der Auftraggeber Amris enttarnt wurde. Es handle sich um das irakischstämmige IS-Mitglied Ali Hazim Aziz, berichtet der Rundfunk Berlin-Brandenburg. Der hochrangige Funktionär der Terrormiliz mit dem Kampfnamen Abu Bara’a al Iraqi befinde sich nach wie vor auf freiem Fuß. Deutsche Sicherheitsbehörden hätten wenige Tage nach dem Anschlag Hinweise erhalten, diese jedoch nicht weiterverfolgt. Die Spur sei „im Sand verlaufen“, so ein Ermittler. Für den FDP-Abgeordneten Benjamin Strasser, der im Untersuchungsausschuß saß, steht fest: „Anis Amri war alles, nur kein Einzeltäter.“