© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/21 / 17. Dezember 2021

„Keine Begrüßungsfeste gefeiert“
Einwanderung: Erstmals seit 2016 nimmt die Zahl der Asylgesuche wieder zu / Deutlicher Zuwachs bei den Folgeanträgen
Peter Möller / Christian Vollradt

Die Grenze zwischen Polen und Weißrußland ist weit weg. Die Bilder von den teilweise gewalttätigen Versuchen Tausender Migranten, in die EU und damit nach Deutschland zu gelangen, sind längst wieder aus den Nachrichten verschwunden. Doch damit ist die neue Flüchtlingswelle, die sich seit Monaten langsam aber stetig aufbaut, für die Bundesrepublik nicht vom Tisch. Das zeigt ein Blick in die nun vorgelegte Asylstatistik für November: Demnach registrierte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im abgelaufenen Monat mit 16.520 Erstanträgen auf Asyl einen neuen Jahreshöchstwert. Im Vergleich zum Oktober stieg die Zahl damit um 24,3 Prozent. Verglichen mit dem Vorjahresmonat, bedeutet dies sogar einen Zuwachs von 89,1 Prozent.

Dieser deutliche Anstieg der Zuwanderung schlägt sich auch auf die Gesamtzahl der Asylanträge im laufenden Jahr nieder: Seit Januar sind bislang 132.666 Ausländer nach Deutschland gekommen, um hier Asyl zu beantragen. Das entspricht einer Zunahme der Antragszahlen gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 41,5 Prozent. 2020 wurden in Deutschland 102.581 Erstanträge auf Asyl gestellt. Die meisten Antragssteller im November (4.697) stammten aus Syrien, gefolgt vom Irak (2.773) und Afghanistan (2.702). Aufs Jahr gesehen, lagen Afghanen mit 20.454 Anträgen auf Platz zwei hinter Syrern (50.218) und vor Irakern (13.275).

Nach Auskunft des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf) ist der aktuelle Zuwachs bei den Asylanträgen auch auf die deutlich gestiegene Zahl der sogenannten Folgeanträge zurückzuführen. Ein Folgeantrag liegt nach der Definition des Bundesamts vor, wenn der Asylbewerber „nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags erneut einen Asylantrag stellt“. Ein erneutes Verfahren sei nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen möglich, wenn sogenannte Wiederaufgreifensgründe vorlägen. „Hierzu zählen beispielsweise eine erhebliche Änderung der Verhältnisse im Herkunftsland oder aber es liegen neue Beweise vor, die bei einer Rückkehr der betroffenen Person in ihr Herkunftsland zu ihrer Gefährdung führen könnten“, teilte das Bamf mit. Nur in diesem Fall erfolge die weitere Bearbeitung wie bei einem Erstantrag.

Deutschland will weitere 25.000 Afghanen aufnehmen

„Die Zahl der Folgeanträge im Berichtsjahr 2021 (bis zum 30.11.) stieg gegenüber dem vergleichbaren Vorjahreswert (15.126 Folgeanträge) um 162,5 Prozent auf 39.704 Folgeanträge“, teilte das Amt auf Anfrage der JUNGEN FREIHEIT mit. Davon entfallen 15.108 auf syrische Staatsangehörige. „Nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 19. November 2020 zur Wehrdienstverweigerung wurden zahlreiche Folgeanträge von Syrern gestellt, die bereits über subsidiären Schutz verfügten“, heißt es dazu als Erklärung vom Bamf. Weitere 7.497 Folgeanträge seien in diesem Jahr von afghanischen Staatsangehörigen gestellt worden. Hier sei ab September, also in direkter Folge des Mitte August erfolgten Zusammenbruchs der vom Westen unterstützten Regierung in Kabul eine deutliche Zunahme zu verzeichnen.

Ablesbar ist diese Entwicklung auch an den Veränderungen im Ausländerzentralregister. Demzufolge halten sich derzeit etwa 859.000 syrische, 299.000 afghanische und 273.000 irakische Staatsangehörige in Deutschland auf (Stand 31. Oktober). Am Ende des vergangenen Jahres lebten 818.460 Syrer, 271.805 Afghanen und 259.500 Iraker hierzulande. Unter den Nicht-EU-Ausländern stellen Syrer damit nach Türken (1.461.910) die zweitgrößte Gruppe aus einem einzelnen Herkunftsland.

Welche Dynamik die neue Migrationswelle bereits gewonnen hat, zeigt sich daran, daß die Zahl der Asylgesuche in Deutschland angesichts der aktuellen Daten erstmals seit 2016 wieder zugenommen hat. Die beiden höchsten Asylzahlen in der Geschichte der Bundesrepublik wurden bislang in den Jahren 2015 und 2016 registriert, als jeweils rund 477.000 beziehungsweise 746.000 Erstanträge gestellt wurden. Danach sanken die Zahlen wieder, blieben aber stets – teilweise deutlich – über der Marke von 100.000 (siehe Grafik).

Die wachsende Zahl von neuen Asylbewerbern hat bereits jetzt Auswirkungen auf Städte und Kommunen, denen langsam der Wohnraum für die Migranten ausgeht. Nach der großen Einwanderungswelle ab 2015 waren in der Folgezeit die meisten Sammelunterkünfte längst wieder heruntergefahren worden, nachdem viele Migranten in den Wohnungsmarkt integriert worden waren. Nun wird vielerorts hastig versucht, die Aufnahmekapazitäten wieder zu erhöhen, um auf den wachsenden Bedarf zu reagieren. Erschwerend kommt hinzu, daß unter den Bedingungen von Corona die maximale Anzahl der Plätze in den Unterkünften meist nicht ausgeschöpft werden kann, um den nötigen Abstand zu wahren. So stehen beispielsweise in den Landes-erstaufnahmestellen in Baden-Württemberg zwar 6.300 Plätze für Asylbewerber zur Verfügung, doch pandemiebedingt sind derzeit nur 4.700 belegbar.

Auch an anderer Stelle scheint es bei der Bewältigung der neue Migrationswelle zu haken. „Die Begeisterung in der Bevölkerung ist heute nicht mehr so groß wie noch 2015“, sagte die Migrationsbeauftragte des baden-württembergischen Landkreises Ravensburg, Diana Raedlers, der „Tagesschau“. „Es werden keine Begrüßungsfeste mehr gefeiert, und es gibt weniger Menschen, die ehrenamtlich helfen wollen.“

Doch ungeachtet dessen setzt die neue Dienstherrin des Bamf, Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) bereits neue Akzente. Zum einen rückte sie von der Linie ihres Amtsvorgängers Horst Seehofer (CSU) ab und kritisierte die polnische Politik an der Grenze zu Weißrußland: „Für mich ist es aber auch wichtig, daß rechtliche Standards eingehalten werden an der Grenze“, sagte Faeser im Vorfeld des Treffens mit ihren EU-Kollegen am Donnerstag vergangener Woche. Während Seehofer die Zurückweisung von Migranten durch polnische Sicherheitskräfte als richtig bezeichnet hatte, meint die frischernannte Ressortchefin, jeder, der angibt, Asyl zu suchen, müsse an einer EU-Außengrenze einreisen dürfen. 

Polen wiederum beharrt auf dem Recht der Zurückweisung, falls Asylsuchende nicht direkt aus dem Gebiet einreisen, in dem sie bedroht sind. Außerdem seien auch nach EU-Recht „Push-backs“ immer dann statthaft, wenn ihnen „Push-ins“ vorausgingen, also die Migranten erkennbar über die Grenze getrieben würden. Polnische Regierungsvertreter hatten in der Vergangenheit auch auf die Tatsache verwiesen, daß es möglich sei, an Grenzübergangsstellen Asylanträge zu stellen; dies würden die meisten der Betroffenen aber gar nicht wollen, da sie so geringe Chancen auf eine Weiterreise nach Deutschland hätten. Dort hat trotz der polnischen Maßnahmen die Bundespolizei seit dem Sommer schon mehr als 10.500 aus Weißrußland über Polen in die Bundesrepublik Eingereiste aufgegriffen. 

Ein weiteres Einwanderungs-Plus ist durch neue Zusagen Richtung Hindukusch zu erwarten. Vergangene Woche einigte man sich in Brüssel darauf, insgesamt 40.000 Afghanen zusätzlich in der EU aufzunehmen. Über die Hälfte von ihnen, nämlich 25.000, kommt nach Deutschland, das hat die neue Bundesregierung zugesagt. Dabei ist noch völlig unklar, wie viele afghanische Staatsangehörige aus den bisherigen Kontingenten noch kommen. Es kursieren weiterhin höchst unterschiedliche Zahlen. So seien in den Monaten nach der Machtübernahme der Taliban bisher 7.033 der rund 25.000 Personen mit einer deutschen Aufnahmezusage in die Bundesrepublik gelangt, zitierten die Zeitungen der Funke-Mediengruppe aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion. 

Der Personenkreis setze sich zusammen aus 4.590 sogenannten Ortskräften der Bundeswehr und deutscher Ministerien sowie 19.966 Familienangehörigen von ihnen. Bisher seien 1.319 afghanische Ortskräfte mit 5.711 Angehörigen hierzulande angekommen. Woraus sich die Zahl der knapp 5.000 Ortskräfte ergibt, ist allerdings auch nicht ganz klar. Anfang November hatte die Bundesregierung auf eine schriftliche Anfrage des Abgeordneten Petr Bystron (AfD) hin mitgeteilt, von Oktober 2018 bis September 2021 seien 57 afghanische Ortskräfte für die drei deutschen Ministerien (Außen, Innen und Verteidigung) sowie 200 für die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) und die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) neu angestellt worden. Addiert man diese Angaben mit den 576 Ortskräften derselben Ressorts sowie den 1.300 lokalen Helfern von GIZ und KfW, die zuvor mit Stand vom Oktober 2018 tätig waren, kommt man auf lediglich 2.133 Ortskräfte. 

Unklar sind auch die Details der sogenannten „Menschen­rechtsliste“, die das Auswärtige Amt führte und die rund 2.600 weitere „besonders schutz­be­dürftige Personen“ mit einem „Deutschland-Bezug“ verzeichnen soll. Darunter offenbar Mitglieder afghanischer Nichtregierungsorganisationen. Familienangehörige eingerechnet, sollen auf dieser mittlerweile geschlossenen Liste ungefähr 10.000 Personen mit einer Aufnahmezusage stehen.

Foto: Migranten vor der Zentralen Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber in Brandenburg: Immer mehr Syrer leben hierzulande