© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/21 / 17. Dezember 2021

Ländersache: Baden-Württemberg
Liebreich wie ein Vaterhaus
Christian Vollradt

And’re mögen and’re preisen als der Musenstädte Zier“, heißt es am Beginn eines alten studentischen Loblieds auf Tübingen. Doch anders als buntbemützte Korporierte blicken viele Grüne in Baden-Württemberg weitaus weniger verzückt auf das pittoreske Universitätstädtchen am Neckar. Denn wenn das bundesweit für Schlagzeilen sorgt, so liegt es längst nicht mehr an streitbaren Professoren wie Hans Küng oder Walter Jens, sondern an seinem Oberbürgermeister Boris Palmer. Der ist zwar ein Grüner, provoziert mit seinen Äußerungen jedoch am meisten die eigenen Parteifreunde. Und zwar so sehr, daß sie ihn am liebsten rauswerfen wollen (JF 46/21). 

Vergangene Woche stellte das zum unerwünschten Mitglied erkorene Stadtoberhaupt den 34seitigen Ausschlußantrag, den eine große Rechtsanwaltskanzlei im Auftrag des Grünen-Landesverbands verfaßt hat, ins Internet. Der Vorwurf der Ankläger: Mit seinen Äußerungen gegenüber der Presse und in eigenen Publikationen sowie durch seine Beiträge in sozialen Medien habe Palmer „vorsätzlich und erheblich gegen die Grundsätze und die Ordnung der Partei Bündnis 90/Die Grünen verstoßen und dieser dadurch einen schweren Schaden zugefügt“. Eigentlich hätte er den Schriftsatz an die zuständige Kreisschiedskommission Tübingen als „internes Dokument“ behandeln sollen. Doch der als wenig konfliktscheu geltende OB dachte nicht daran. Schließlich habe die Gegenseite bereits via Pressemitteilung offensiv über ihre Sicht der Dinge unterrichtet, da wolle er auch ein bißchen „in die öffentliche Meinungsbildung eingreifen“. Außerdem sei der Antrag bis zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht schriftlich Palmers Anwalt, dem ehemaligen Grünen-Bundestagsfraktionsvorsitzenden Rezzo Schlauch, zugestellt worden.

Palmer, so schreiben die Anwälte des Vorstands, habe sich „Stück für Stück mehr von der Linie der eigenen Partei“ und „immer mehr in Gegensatz zu deren Grundüberzeugungen“ begeben, wobei er „stets auf öffentliche Wirksamkeit bedacht“ sei. Besonders zu wurmen scheint die Partei Palmers These, die Grünen hätten mit ihrer blauäugigen Migrationspolitik „immer mehr Leute zur AfD“ getrieben. Und so mahnt man: Die Partei „setzt sich für eine freie, offene und vielfältige Gesellschaft ein. Die inklusive Gesellschaft ist Grundsatz und Leitbild grüner Politik.“ Für die Verteidigung der Rechte „von Flüchtlingen und Asylbewerbern und Asylbewerberinnen“ sei die Partei „immer eingetreten, auch dann, wenn dies den aktuellen politischen Strömungen zuwiderlief“. Sogar eine Abkehr vom Grundgesetz hält der Vorstand dem Widerborstigen vor: Seine Behauptung, „man dürfe von Asylbewerbern ein gesetzestreueres Verhalten erwarten als von Deutschen, frappiert insofern, als daß damit eine rechtliche Ungleichheit behauptet wird, die so nicht existiert“.

Erstaunlicherweise nehmen die Juristen im Auftrag der Grünen sogar Anleihen bei der politischen Konkurrenz und und zitieren aus einem fast 40 Jahre alten Urteil des Schiedsgerichts der CSU: „Wer in eine politische Partei eintritt, unterwirft sich deshalb im Interesse einer Verstärkung seiner eigenen politischen Effektivität zwangsläufig gewissen Selbstbeschränkungen im politischen Handeln.“