© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/21 / 17. Dezember 2021

„Ignoranz, Inkompetenz und Ideologie“
Wie schlimm wird die Inflation? Der Wirtschafts-wissenschaftler Siegfried Franke über ihre Folgen und Ursachen und das Versagen der Politik
Moritz Schwarz

Herr Professor Franke, wie schlimm wird die Inflation?

Siegfried Franke: Das hängt davon ab, ob es der EZB gelingt, die Inflationsrate von derzeit fünf Prozent und mehr in den nächsten Monaten wieder auf maximal zwei Prozent zu senken. Denn nach einer Faustformel spricht man von Preisniveaustabilität, wenn die Inflationsrate zwischen anderthalb und zwei Prozent liegt. Sind es mehr, dann ist zuviel Geld in Relation zur angebotenen Warenmenge in Umlauf.

Sinkt die Inflation wieder auf zwei Prozent oder weniger, fallen dann die Preise auf das Niveau vor Beginn der Inflationswelle?

Franke: Nein, da darf man sich keine Illusionen machen. Das dann erreichte Preisniveau wird bleiben. Es bedeutet nur, daß die folgenden Preissteigerungen sich wieder im „normalen“ Rahmen vollziehen, das heißt, etwa zwei Prozent pro Jahr.

Jenen, die vor der Inflation warnen, wird mitunter vorgeworfen, sie dramatisierten, um die Bürger aufzuwiegeln – und jenen, die Entwarnung geben, sie verharmlosten die Gefahr. Wer hat recht? 

Franke: Verharmlosung trifft es wohl eher – wenn man sich anschaut, mit welchen Tricks schon jetzt bei der Preissteigerungsrate versucht wird, das wahre Ausmaß der Inflation geringer erscheinen zu lassen. Außerdem werden die Preissteigerungen bei den Vermögenswerten – Immobilien, Aktien, Gold  etc. – kaum kommuniziert.

Was meinen Sie? 

Franke: Die EZB rechnet die Inflationsrate herunter, tatsächlich liegt sie wohl ein bis zwei Prozentpunkte höher. Das soll aber dem Bürger verborgen bleiben, um keine Unruhe zu verbreiten. 

Also haben jene recht, die erwarten, daß die hohe Inflation im Frühjahr nicht enden wird, sondern andauert? 

Franke: Ich fürchte, ja. Auch weil nicht zu erkennen ist, daß die Politik genug unternimmt, das Problem in den Griff zu bekommen. 

Inwiefern? 

Franke: Wenn die Ampel-Koalition mehr als vier Jahre überstehen will, muß sie der Inflation zeitnah deutlich mehr an Aufmerksamkeit und Energie widmen. Der Koalitionsvertrag zeigt jedoch, daß sie das Problem der Inflation nicht für wichtig hält – vielleicht hat sie es nicht einmal als solches erkannt. Denn tatsächlich stehen darin nur zwei Sätze zum Thema: Zum einen die nicht gerade bahnbrechende Erkenntnis, daß die Preisstabilität elementar für den Wohlstand „Europas“ – gemeint ist wohl die EU – sei. Zum anderen, daß man die Sorgen der Menschen ernst nähme.

Was halten Sie für den Grund, daß das Problem quasi nicht vorkommt – ist das Ignoranz oder Inkompetenz?

Franke: Vermutlich beides – vor allem aber Ideologie und das Bestreben, mehr Macht nach Brüssel zu verlagern und die Euro-„Schuldenunion“ voranzutreiben. Im Koalitionsvertrag steht nämlich schon ein paar Zeilen vor den dürren Sätzen zur Inflation, daß der Euro-„Stabilitäts- und Wachstumspakt“ seine „Flexibilität“ bewiesen habe. Das bedeutet nichts anderes, als daß die einstmals strengen Regeln des Paktes, die den Euro mindestens so stabil halten sollten wie die Deutsche Mark, im Zuge der Euro-Krise nach und nach immer weiter aufgeweicht wurden. Im Koalitionsvertrag heißt es weiter, daß man also auf Grundlage dieses „flexiblen“ Pakts Wachstum sicherstellen, die Schuldentragfähigkeit erhalten und für „nachhaltige und klimafreundliche“ Institutionen sorgen will. Seine Weiterentwicklung solle sich an diesen Zielen orientieren. Mit anderen Worten, die Ampel ist bereit, die Gesamtverschuldung von Euro-Staaten, die bislang auf sechzig Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts beschränkt war, deutlich zu erhöhen. Achtzig, hundert oder mehr Prozent seien hinzunehmen, wenn die Staaten in der Lage sind, die entsprechende Zins- und Tilgungslast zu schultern.  

Und wenn sie das nicht können? 

Franke: Dann werden, da bin ich mir sicher, neue Rettungsaktionen ersonnen werden. Die Ampel will jedoch nicht nur die Schuldentragfähigkeit ausweiten, sondern wie erwähnt mit Hilfe des Paktes auch nachhaltige und klimafreundliche Ziele erreichen. Nimmt man das alles zusammen, dann ist leicht zu erahnen, welche Kosten auf die Unternehmen zukommen. Damit wird deutlich, warum die Ampel der Inflation keine besondere Bedeutung beimißt. Die durch solche Maßnahmen zu erwartenden Preissteigerungen werden von den Koalitionären sicher nicht als Inflation gewertet, sondern als gewollte Kosten, um Verhaltensänderungen zugunsten der Weltklimarettung zu erreichen.

Wie paßt diese Haltung zu SPD und Grünen als nach eigenem Anspruch sozialen Parteien?

Franke: Kurz gesagt: Überhaupt nicht. Es ist ihnen vermutlich nicht einmal bewußt. Sie umgarnen sich und die besonders betroffenen Bevölkerungsschichten mit der Rede von der „sozialen Kompensation“. Pointiert ausgedrückt: Es soll in die linke Tasche hineingeschoben werden, was man der rechten aus Klimagründen abgesaugt hat. Und es würde mich wundern, wenn beides im Gleichgewicht bleibt; es wird sicher deutlich mehr entnommen als zurückgegeben. In der SPD gibt es noch einen kleinen Teil, der sich Arbeitnehmern und Armen verbunden fühlt, er wird jedoch von einem erheblich größeren „linken“ Flügel dominiert, zu dem bekannte Namen wie Kevin Kühnert und Saskia Esken gehören. Ähnlich denken die Grünen. Mitglieder und Sympathisanten beider Gruppierungen gehören gesellschaftlichen Schichten an, die sich kaum vorstellen können, was es heißt, wenn man ab dem Zwanzigsten des Monats nur noch spärliche Einkäufe tätigen kann und mit gedrosselter Heizung und strenger Strom- und Wasserdisziplin durch den Monat kommt. Bezeichnend ist, daß es im Koalitionsvertrag heißt, die Umweltmaßnahmen sollen ein „Muster für die Welt“ sein. Präferenz genießt also die Rettung der Welt – nicht etwa die Verbesserung der Lage sozial schwacher Schichten.

Was ist mit der FDP, müßte die nicht gegen die Inflation auf die Barrikaden gehen? 

Franke: Sicher, doch zum einen ist sie die kleinste Kraft der Ampel, zum anderen steht ihr sozialliberaler Flügel ja schon seit Jahrzehnten nicht mehr hinter dem wirtschaftsliberalen Anspruch der Partei. Und mir scheint, Christian Lindner und andere in der FDP werden sich in den leidvollen Jahren der Vergangenheit an den Spruch Franz Münteferings von der SPD erinnert haben: „Opposition ist Mist!“ Da mildert man schon mal ein paar ordnungspolitische Grundsätze ab, um weiter „mitspielen“ zu können.

Wo endet das, in einer Hyperinflation wie 1923? 

Franke: Das glaube ich nicht. Denn der Erste Weltkrieg, die Wurzel der Hyperinflation, war eine ganz besondere Dummheit, da die Globalisierung damals bereits ein Maß hatte, das wir erst wieder um 1960/70 erreicht haben. Die Staaten waren wirtschaftlich bereits vielfach verbunden, als sie 1914 kriegerische Handlungen begannen, ohne auch nur annähernd zu ahnen, zu welchem schrecklichen Ende sie führen sollten. Der Versailler Vertrag – übrigens vom bedeutenden Ökonom John M. Keynes als großes Übel angesehen – brachte keine wirkliche Entspannung. Zudem gingen die Staaten über zu einer protektionistischen Wirtschaftspolitik, die den Wiederaufbau behinderte. Die sich schließlich ab 1923 ergebende explosionsartige Verschuldung mit der Folge einer Hyperinflation wird sich heute sicher nicht wiederholen.

Sollte sich die Inflationswelle also über das Frühjahr hinaus fortsetzen – was bedeutet das für uns Bürger?

Franke: Weiter steigende Preise entwerten Löhne und Einkommen. Das setzt die Gewerkschaften unter Druck, neben der üblichen Lohnerhöhung auch einen entsprechenden Inflationsausgleich zu fordern. Manche Unternehmen werden dies in den Preisen nicht weitergeben können und aufgeben. Auf dem Weltmarkt werden deutsche und EU-Produkte teurer, so daß mit Markteinbußen zu rechnen ist. So verständlich das Begehren nach höheren Löhnen ist, sie können zu einer Entwicklung führen, die die Preis- und Inflationsspirale weiter antreibt. Nebenbei bemerkt, das Bestreben der EU, eine maßgebende dritte Kraft zwischen China und den USA zu werden, wird dann wohl Illusion bleiben. Die unteren sozialen Bevölkerungsschichten werden besonders unter den steigenden Lebenshaltungskosten leiden. Das betrifft auch die Rentner. Das Rentenniveau wird – entgegen allen Beteuerungen der Politiker – nicht zu halten sein. Es wird auch immer schwieriger, eine private Altersvorsorge aufzubauen. Bereits angesparte Beträge verlieren an Wert. Ein beträchtlicher Teil des von der EZB „gedruckten Geldes“ fließt in Vermögenswerte, also auch in Immobilien. Das kommt insbesondere jenen zugute, die Zugriff auf das sogenannte Zentralbankgeld haben. Dazu gehören Banken und große intermediäre Finanzinstitutionen, nicht jedoch der normale Bürger. Dem ist es kaum noch möglich, Häuser oder Wohnungen für den Eigenbedarf und zur Alterssicherung zu erwerben. Stattdessen sieht er sich steigenden Mieten ausgesetzt, zumal die nach wie vor hohe Zahl an Zuwanderung natürlich auch Wohnraum in Anspruch nimmt. Hinzu kommt, daß das aus Klimagründen schon jetzt mit Auflagen überfrachtete Baugewerbe mit weiteren kostenträchtigen Auflagen rechnen muß.

Kann man abschätzen, wieviel Prozent dauerhafte Inflation zu wieviel Prozent mehr Armut führen? 

Franke: Eine konkrete Aussage dazu wäre ohne eine ausreichende empirische Datenlage unseriös – ich verfüge aber leider nur über anekdotische Evidenzen. Entsprechende Beobachtungen sowohl in Ungarn wie auch in Deutschland zeigen, daß es offenbar eine Zunahme der öffentlichen Armut gibt. Ich möchte mir nicht ausmalen, was es für viele Bürger bedeutet, wenn die weiter zunimmt. Zumal ich gerade lese, daß Berlin Obdachlose, die vor Kälte und Nässe Schutz suchen, wegen der 3G-Regel aus den U-Bahnhöfen jagt. Man sieht also, wie desinteressiert und unbarmherzig die Politik gegenüber Bürgern sein kann, die solch ein Schicksal erleiden. Aber zurück zu Ihrer Frage: Sicher ist, daß die Einkommensschere zwischen „unten“ und „oben“ immer größer wird, weil, wie gesagt, das von der EZB zur Verfügung gestellte Geld überwiegend in die Hände oberer Schichten fließt.

Wieviel Prozent der Inflation haben keine politische Ursache, und wieviel gehen auf die Politik zurück?

Franke: Wirtschaftliche Probleme und auch Preissteigerungsschübe können externe Ursachen haben: sogenannte externe Schocks, denen betroffene Regierungen wenig entgegensetzen können, wie Naturkatastrophen, Mißernten, politische Umstürze in anderen Staaten. Ein großer Teil geht aber auf eigene politische Fehler zurück. Ich nenne exemplarisch die Euro-Rettungspolitik, die fehlgeleitete Energiewende, die Steuer- und Gebührenpolitik, aber auch eine unzureichende Bildungspolitik sowie ein überbordendes Maß an Bürokratie. Hinzu kommt die jahrzehntelange Vernachlässigung der öffentlichen Infrastruktur zugunsten staatlicher Konsumausgaben. Die knappe Auflistung zeigt, daß sich ein Großteil der Inflation sicher auf eine undurchdachte und wenig vorausschauende Politik zurückführen läßt. Allerdings zeigen sich deren Folgen immer sehr viel später, so daß es selten möglich ist, die wahren Verursacher politisch zur Rechenschaft zu ziehen. Insofern ist es auch kaum möglich, quantitative Angaben zu machen. Es bleibt die qualitative Aussage, daß viele heute zu beobachtende Mißstände, also auch die Inflation, politisch verursacht sind.

Welche politische Folge könnte Dauerinflation haben? 

Franke: Wie erwähnt wird die Schere zwischen „unten“ und „oben“ immer größer. Bei fortdauernder Inflation wird bald auch das untere Drittel der Mittelschicht abrutschen, und schließlich sieht sich fast die gesamte Mittelschicht um Aufstiegs- und Einkommensmöglichkeiten gebracht. 

Drohen dann soziale Unruhen? 

Franke: Ob und wann die so entstehende soziale Lage, die das Land politisch destabilisiert, auch zu Unruhen führt, ist schwer zu sagen, weil sich Apathie und Desillusion breitmachen.

Würde davon die Opposition – AfD, CDU, Linke – profitieren, oder würden die Bürger, wie in der Corona-Krise, eher bei der Regierung Sicherheit suchen?

Franke: Ich glaube nicht, daß bei den Linken so viel Sachverstand und Wille vorhanden ist, um den Bürgern die wahren Ursachen aufzuzeigen. Stattdessen werden sie die alte ideologische Leier spielen, daß der Kapitalismus an allem schuld sei, und daß es mehr an Umverteilung sowie Enteignungen geben müsse. Die CDU/CSU hat in den letzten 16 Jahren kräftig darauf hingewirkt, daß sich die derzeitige Lage entwickeln konnte – wie soll sie da eine Wende vollziehen? Etwaige rationale Argumente der AfD werden sicher vom politischen Moralismus an die Seite gewischt. Von den Grünen und der FDP erwarte ich nichts. Bleibt noch die SPD. Sollte es Olaf Scholz wider Erwarten gelingen, allzu große Zumutungen, die die Grünen planen, zu verhindern, könnte das ihm und damit ironischerweise der Ampel insgesamt zugute kommen. 






Prof. em. Dr. Siegfried F. Franke, lehrte von 1991 bis 2010 Wirtschaftspolitik und Öffentliches Recht an der Universität Stuttgart. Von 1998 bis 2002 war er dort Dekan der Fakultät der Wirtschafts-, Sozial- und Geschichtswissenschaften. Von 2012 bis 2015 hatte er den Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik an der Andrássy-Universität in Budapest inne, wo er heute noch als Gastprofessor tätig ist. Geboren wurde der Volkswirtschaftler 1942 im niederschlesischen Münsterberg bei Breslau. 

Foto: Entwertung von Geld und Guthaben: „Der Blick in den Koalitionsvertrag zeigt, daß die Ampel die Inflation nicht für wichtig hält, vielleicht hat sie das Problem noch nicht einmal als solches erkannt ... Liest man weiter, dann läßt sich erahnen, welche Kosten noch auf die Unternehmen zukommen werden ... Ich möchte mir nicht ausmalen, was (das) für viele Bürger bedeutet “