© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/21 / 10. Dezember 2021

Getanzter Bandenkrieg
Kino: Steven Spielberg hat sich der „West Side Story“ angenommen
Dietmar Mehrens

Eigentlich war es damals, 1957, schon eine großartige Idee, die Handlung von Shakespeares Romeo und Julia um den Nebenstrang-Ballast zu erleichtern, die so entstandenen Lücken mit Musik- und Tanzeinlagen zuzukleistern und die ganze Geschichte ins Milieu urbaner Halbstarker zu verlagern, um damit das Identifikationspotential für eine rebellische Jugend zu schaffen. Das Ergebnis hieß West Side Story, und aus Romeo und Julia wurden Tony und Maria. 

Sie gehören verschiedenen Identitätsgruppen an, verlieben sich bei einer Tanzveranstaltung aber trotzdem ineinander. Und damit beginnen die Probleme. Denn Marias Bruder Bernardo (David Alvarez) ist der Anführer der Sharks, die sich mit den Jets, zu denen Tony (Ansel Elgort) gehört, in Dauerfehde befinden. Während Tony jedoch nach einer einjährigen Gefängnisstrafe zur Besinnung gekommen ist und von Gewalt nichts mehr wissen will, ist sein Freund Riff (Mike Faist), die neue Galionsfigur der Jets, ein aggressiver Provokateur und Eskalateur. Er sucht die Auseinandersetzung mit den Territorialrivalen von den Sharks und besorgt sich vor dem entscheidenden Kräftemessen eine Schußwaffe. Für weiteren Konfliktstoff sorgt ein von Bernardo für Maria (Rachel Zegler) ausersehener Brautwerber aus dem Lager der spanischsprachigen Sharks. Damit sind für eine tragische Zuspitzung der Ereignisse, wie man sie vom Drama um die Montagues und Capulets kennt, die nötigen Weichen gestellt. 

Frischer visueller Anstrich für eine in die Jahre gekommene Geschichte

Das berühmte Broadway-Musical von Leonard Bernstein (Musik) und Arthur Laurents (Buch) gewann als Film mit Natalie Wood in der Hauptrolle 1962 zehn Oscars und ist damit ein Klassiker der Filmhistorie. Es ist ein Wagnis, einen solchen Klassiker neu zu verfilmen. Natürlich eignet sich der Stoff der „West Side Story“ vortrefflich für unsere Zeit, die Zeit der Identitäten, Rassen und Klassen. In puncto Klasse unterscheiden sich die Jets und die Sharks zwar nicht – beide gehören dem New Yorker Einwandererprekariat an –, sie bilden jedoch rivalisierende Identitätsgruppen (früher nannte man das Banden): Die Sharks sind Puertoricaner, die Jets europäische Einwanderer. Zeitgemäß übersetzt: „People of color“ gegen weiße Suprematisten. Es geht um Haß und dessen Überwindung durch Liebe gegen den Widerstand der Mächte der Reaktion, die sich dem Aussöhnungskurs in den Weg stellen. 

Seit dem durchschlagenden Erfolg von Damien Chazelles „La La Land“ (2016) scheinen Filmmusicals Hollywoods liebstes Kind zu sein. Zwischen das gesungene Generation-Instagram-Porträt „Dear Evan Hansen“, das Ende Oktober startete, und die musikalische Tragikomödie „Annette“, die nächste Woche in die Kinos kommt, quetscht sich nun Steven Spielbergs Reinszenierung der „West Side Story“. Der Meisterregisseur hat sich viel Mühe gegeben, der etwas in die Jahre gekommenen Geschichte einen frischen visuellen Anstrich zu geben. Die Kulissen des Originals von 1961 sehen im Vergleich altbacken aus. Schon die erste Szene, eine Kamerafahrt über die Abrißhalden der New Yorker Westseite, verheißt ein cineastisches Spektakel. Doch dieses bleibt aus. Spielbergs Neuinterpretation wirkt mut- wie kraftlos und uninspiriert.

Statt etwas komplett Neues zu wagen, setzt auch Spielberg in erster Linie auf die von Leonard Bernstein komponierten Gesangsstücke. Statt die Vorlage in ein aufwühlendes Existenzdrama mit Gegenwartsbezug umzuspinnen, in dem Charaktere, Motive und Ambitionen der Hauptfiguren Tony, Riff, Bernardo und Maria tiefer ausgelotet werden, als es dem Original ein Anliegen war, nutzt Spielberg lediglich die technischen Möglichkeiten des modernen Kinos. Wie vor sechzig Jahren wird die Straßentanzszene zum Rhythmus des immergrünen Schlagers „(I like to be in) America“ zum choreographischen Höhepunkt.

Das alles mag sehens- und vor allem für Freunde der Fünfziger hörenswert sein. Zweifellos gibt es Menschen, die gern dabei zugucken, wenn verliebte Jungs auf den Straßen tanzen. Ohne Frage ist Leinwanddebütantin Rachel Zegler als Maria ein Glücksgriff und die Mitwirkung von Hollywoodlegende Rita Moreno, die schon im Original dabei war, diesmal in der Rolle der Ladeninhaberin Valentina, eine schöne Idee. Aber es stellt sich die Frage, wen Spielberg damit hinterm Ofen hervorlocken will. Die Lebenswirklichkeit der Jugendlichen von heute bildet der Film nicht ab.

Kinostart ist am 9. Dezember 2021