© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/21 / 12. November 2021

Der deutsche Sonderweg
Energiepolitik: Die gleichzeitige Abschaltung von Atom- und Kohlekraftwerken verursacht eine dramatische Stromlücke
Manfred Haferburg

Die Energiewende wird zum Bumerang. Elf Kernkraftwerke wurden seit 2011 abgeschaltet, 12.383 Megawatt (MW) sichere Leistung fehlen seither. Bis Jahresende sollen auch die AKW Grohnde, Gundremmingen C und Brokdorf vom Netz gehen. Isar 2, Emsland und Neckarwestheim 2 sollen spätestens Ende 2022 abgeschaltet werden. Dann fehlen 23 Prozent der deutschen Stromversorgung des Jahres 2010. Dies verlangt das „13. Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes“, das 2011 mit überwältigender Bundestagsmehrheit auf Initiative der schwarz-gelben Bundesregierung beschlossen wurde.

Auch modernste Kohle- und Gaskraftwerke wurden verschrottet. Kühltürme wurden in die Luft gesprengt, viele Milliarden Euro Investitionskosten unter dem Beifall der Presse und großer Teile der Bevölkerung vernichtet. Aber nach den besonders windreichen Jahren 2019 und 2020 bläst der Wind wieder normal. Kohle und Gas sowie Strom aus Nachbarländern müssen einspringen, sonst gehen die Lichter aus (JF 39/21). Das politisch verknappte Stromangebot läßt die Energiepreise in ungeahnte Höhen steigen. Da mehr Erdgas und Kohle verstromt wird, steigen folgerichtig auch diese Preise.

Die „CO2-Bepreisung“ verteuert auch Benzin, Diesel und Heizöl. Die Politik reagiert mit Beschwichtigungsversuchen. Erst knöpft sie den Bürgern via Brennstoffemissionshandelsgesetz & Co. Geld ab, um ihnen dann ein „Energiegeld“ zu versprechen. Der erhöhte Bedarf an konventionellen Energieträgern erhöht auch den CO2-Ausstoß in Deutschland. Auf die CO2-freie Kernenergie kann man künftig nicht mehr ausweichen, der „Atomausstieg“ scheint sakrosankt – Deutschland steckt mitten in einer veritablen Energiekrise, deren Auswirkungen unabsehbar sind. Doch kein potentieller Regierungspolitiker traut sich, gegenzusteuern.

Nun erhebt sich ein vielstimmiger Chor mit der Forderung, wenigstens die letzten sechs verbliebenen AKW einfach weiterlaufen zu lassen. Die EU hätte nichts dagegen, mehr noch: Man benötige „neben den Erneuerbaren die Atomenergie als stabile Energiequelle“, erklärte Kommissionschefin Ursula von der Leyen, sowie „während des Übergangs zur Klimaneutralität auch Erdgas“. Kernenergie soll daher von Brüssel als „grüne Energiequelle“ eingestuft werden (JF 45/21).

Dem deutschen Sonderweg folgt die Mehrheit der EU-Länder nicht. In Paris kostet der Strom, der zu etwa 70 Prozent aus Kernenergie stammt, nur 18 Cent pro Kilowattstunde (kWh), während es in Deutschland bei nur noch zwölf Prozent Kernenergie stolze 32 Cent sind. Frankreich verursachte – laut Global Carbon Project (GCP) – 2020 pro Kopf 4,24 Tonnen CO2-Ausstoß, Deutschland 7,69 Tonnen. Da kann sich Energiewende-Schönrechnerin Claudia Kemfert (Leuphana Universität Lüneburg; DIW Berlin) noch so anstrengen, die Vollkosten der Kernenergie sind mit 2,7 bis vier Cent pro kWh niedriger als die 8,2 bis 9,1 Cent für Strom aus Solar- und Windparks oder die 13,3 Cent bei Biogas-Verstromung. Auch Erdgas ist – selbst bei den niedrigen Preisen des Corona-Jahrs 2020 – mit elf Cent kein Billigheimer. Braunkohlestrom würde etwa 4,5 Cent kosten, wenn da nicht die steigende CO2-Bepreisung wäre.

Weiterbetrieb der verbliebenen sechs Kernkraftwerke illusorisch

Jahrelang haben sich Energieexperten den Mund darüber fusselig geredet, daß die Vollversorgung eines Industrielandes mit volatiler „erneuerbarer“ Energie ohne großtechnische Speicher nicht funktionieren kann und schon gar nicht bezahlbar ist. Doch für die „grünen“ Politiker aller Couleur war „Grundlast etwas Gestriges“, da Sonne und Wind angeblich keine Rechnung schicken. Wladimir Putins Gazprom liefert nicht zu Freundschaftspreisen. Sonnenbarone, Windmühlen-Millionäre und Biogas-Bauern stellen via Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) sehr wohl eine teure Rechnung aus: 30,9 Milliarden Euro waren es 2020.

Auch die Baufirmen von Windrädern, Solardächern und Stromleitungen schicken Rechnungen, ebenso die ausländischen Stromerzeuger, die bei Flaute und Dunkelheit mit Strom aushelfen und bei Stromüberschuß in Deutschland diesen gegen einen ordentlichen Obolus diesen abnehmen. Und auf jede dieser Rechnungen setzt der deutsche Staat nochmal seinen Steuer- und Abgabenanteil obendrauf. So kam über zwei Jahrzehnte die Summe einer halben Billion Euro zusammen, die deutsche Stromkunden und Steuerzahler für den Vernichtungsfeldzug gegen die Energiewirtschaft schulterten. Die Senkung der EEG-Umlage um drei Cent pro kWh ist nur ein Hütchenspieler-Trick, denn der Ersatz soll durch „Steuermittel“ erfolgen.

Doch jetzt will es keiner gewesen sein; die ersten Protagonisten verlassen das sinkende Energiewendeschiff. So hat ein Mitglied der „Ethikkommission für eine sichere Energieversorgung“ von 2011, der ehemalige BASF-Chef Jürgen Hambrecht, erklärt, daß „der gleichzeitige Ausstieg aus Kohle und Atomkraft ein Fehler ist und über die Vorteile der Kernenergie nochmal nachgedacht werden müsse“. Das sagt ein Manager, der 2010 eine Laufzeitverlängerung der deutschen AKWs forderte und ein Jahr später maßgeblich an der Begründung des Atomausstiegsbeschlusses beteiligt war, mit dem die Vernichtung von bisher elf Kernkraftwerken im Wert von 20 Milliarden Euro begründet wurde.

Zwei ganz mutige „Energiemanager“, die ihre Namen lieber nicht in der Presse lesen möchten, plädieren sogar für den Weiterbetrieb der verbliebenen sechs Kraftwerke. Vielleicht denken diese Illusionisten, daß ein AKW so etwas wie eine Nachttischlampe ist, die man an- und ausknipsen kann? Vielleicht wissen sie nicht einmal, daß ein Weiterbetrieb wenigstens von Isar 2, Emsland und Neckarwestheim 2 ein geändertes Atomgesetz, speziellen Kernbrennstoff, lizenziertes Personal und einen ganzen Berg von Genehmigungen braucht? Dies sind alles Voraussetzungen, die nicht wenige Monate, sondern Jahre benötigen. Viele Ingenieure und Kerntechniker sind längst im Vorruhestand oder ins Ausland und andere Branchen abgewandert.

Am 31. Oktober haben radikale Aktivisten der Klimabewegung „Ende Gelände“ und von „Lützerath lebt“ einen riesigen Braunkohlebagger im rheinischen Tagebau Garzweiler II kurzzeitig „gestoppt“. Auch Förderbänder oder Schienenstrecken wurden von den Kohlegegnern schon mehrfach „blockiert“. Sollte auch nur ein deutsches AKW über den Dezember 2022 hinaus am Netz bleiben, dürfte sich solcher Widerstand potenzieren – Wackersdorf, Gorleben, Kalkar & Co. lassen grüßen. Allenfalls ein tagelanger Blackout mit dramatischen Folgen dürfte ein Umdenken befördern.

Manfred Haferburg ist Diplomingenieur, Kernenergetiker, lebt in Paris und berät Risikoindustrien in Sicherheitsfragen. Er ist Autor des autobiographischen DDR-Romans „Wohn-Haft“.

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