© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/21 / 05. November 2021

„Koordinierte Anstrengung“
Neue Vorwürfe: Die „Facebook Files“ setzen letztlich alle Online-Plattformen unter Druck
Gil Barkei

Der Facebook-Dachkonzern heißt künftig Meta. Der vergangene Woche vorgestellte neue Name ist ein Bekenntnis zur dreidimensionalen Metaverse, eine „begehbare“ virtuelle Welt, in der Mark Zuckerberg die Zukunft des Internets sieht: „Statt auf einen Bildschirm zu schauen, werden Sie mittendrin in diesen Erlebnissen sein“.Viele Beobachter sehen in der Marketingkommunikation jedoch lediglich ein schlechtes Ablenkungsmanöver von sich häufenden Negativschlagzeilen. Nach den schweren Vorwürfen der Whistleblowerin Frances Haugen gegen Facebook (JF 42/21), die sie kürzlich vor einem Ausschuß des britischen Parlaments wiederholte, steigt erneut der Druck auf den Tech-Riesen. Denn nun sind die gut tausend internen Dokumente, die die ehemalige Produktmanagerin des Facebook Civic Integrity Team dem US-Kongreß zur Verfügung gestellt hatte, über einen Kongreßmitarbeiter an zahlreiche Medien weltweit gelangt.

Die schnell „Facebook Files“ betitelten Papiere zeichnen ein vermeintlich eindeutiges Bild: Die eingesetzte und ausgebaute künstliche Intelligenz beim Aufspüren, Prüfen und Löschen von unwillkommenen Inhalten ist fehlerhaft. Haßrede wird so nicht konsequent unterbunden. Facebooks eigene Forscher sprechen von einer Erkennungsrate von zwei bis fünf Prozent – besonders problematisch ist es in arabischsprachigen Ländern. Zudem schlägt das soziale Netzwerk seinen Nutzern selbst rechts- und verschwörungslastige Inhalte vor und fördert damit Gewalt und gesellschaftliche Spannungen. Das „eigene Empfehlungssystem“, so interne Analysen, nehme in „extrem kurzer Zeit ziemlich besorgniserregende, polarisierende Züge an“.

Kurz vor dem Durchstechen der Unterlagen hatte ein weiterer früherer Facebook-Mitarbeiter Beschwerde bei der US-Börsenaufsicht SEC eingelegt. Wie die Washington Post berichtet, wirft der Informant der Facebook-Leitung vor, den Kampf gegen Desinformation behindert zu haben. Angesichts der Diskussionen um eine mutmaßliche Einmischung Rußlands in die US-Präsidentschaftswahl 2016 soll unter anderem der damalige PR-Manager Tucker Bounds gesagt haben: „Einige Abgeordnete werden sauer werden. Und in ein paar Wochen werden sie sich dann mit etwas anderem beschäftigen. In der Zwischenzeit drucken wir Geld im Keller, und es geht uns gut.“ 

Mittlerweile interessiert sich auch die US-Justiz für das Unternehmen aus dem Silicon Valley. Die Generalstaatsanwälte aus 14 Bundesstaaten haben Mitte Oktober mit Ermittlungen wegen des Verbreitens von Corona-Falschinformationen begonnen. Man sei „äußerst besorgt“ über Berichte, die Online-Plattform führe Listen von Nutzern, die eine Sonderbehandlung erhalten hätten, hieß es in einem Brief an Gründer Mark Zuckerberg. Die geleakten „Facebook Files“ sprechen von einem Programm XCheck, das etwa sechs Millionen Prominenten-Accounts Ausnahmen bei den Gemeinschaftstandards einräumt, auch hinsichtlich Covid-19 – ein möglicher Fake-News-Beschleuniger.

Die Offenlegung der Algorithmen rückt wieder in den Fokus

Parallel haben vier demokratische Abgeordnete des US-Repräsentantenhauses einen neuen Gesetzesentwurf für „Gerechtigkeit gegen bösartige Algorithmen“ eingebracht, der alle sozialen Netzwerke für individualisiert empfohlene und prominent angezeigte schädliche Inhalte haftbar machen und damit mit der bisherigen Regelung „Section 230“ brechen will. Diese besagt, daß Internetfirmen für die Inhalte ihrer Nutzer nicht verantwortlich gemacht werden können. Es geht nicht mehr „nur“ um sperren und löschen, sondern darum, wie stark Beiträge personifiziert und verbreitet werden – die Algorithmen-Offenlegung rückt einmal mehr in den Fokus. Auch in Deutschland und Europa will die Politik die „übermächtigen Plattformen zähmen oder notfalls entflechten“, wie die wahrscheinlich bald den Kanzler stellende SPD dem Branchendienst Horizont mitteilte. „Die Unternehmen werden zukünftig nicht mehr völlig freie Hand haben, wie sie ihre Algorithmen gestalten“, betont auch der justizpolitische Chefberater bei der Europäischen Kommission, Paul Nemitz, gegenüber der Zeit.

Facebook-Chef Zuckerberg wies die jüngsten Vorwürfe zurück und sprach von einer „koordinierten Anstrengung“, ein „falsches Bild“ seines Unternehmens zu zeichnen. In den vergangenen Wochen war der Konzern in die Offensive gegangen und hatte versucht, den Kritikern entgegenzukommen. Neben dem Versprechen, die Regeln gegen Hatespeech besser durchzusetzen und verstärkt gegen Mobbing vorzugehen, kündigte Facebook an, in den kommenden fünf Jahren bis zu 10.000 neue Arbeitsplätze in der EU zu schaffen. Gleichzeitig will das Netzwerk im Konkurrenzkampf mit TikTok und Co. offensiv um neue junge Nutzer ringen.