© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/21 / 29. Oktober 2021

Im Zentrum des Wahnsinns
Der diesjährige Büchner-Preisträger Clemens J. Setz bewegt sich mit Vorliebe in Grenzbereichen
Dietmar Mehrens

Es beginnt faszinierend: Ein Mathematiklehrer ist gerade heftig mit seinem Chef, dem Leiter eines dubiosen Instituts namens Helianau, aneinandergeraten, einem Herrn Dr. Rudolph, und danach entlassen worden. Er ist offenbar einem finsteren Geheimnis auf die Spur gekommen. In der Helianau werden Kinder untergebracht, die das sogenannte Indigo-Syndrom aufweisen: Wer sich über einen bestimmten, je nach Kind unterschiedlich langen Zeitraum hinaus in dessen Nähe, der sogenannten „Zone“, aufhält, wird krank. Symptome wie Kopfschmerz und Übelkeit sind typisch. Der entlassene Lehrer findet heraus: Einige Kinder werden, so der Terminus technicus, „reloziert“. Was passiert dabei aber tatsächlich mit ihnen? Das ist das Mysterium, dem der (fiktive) Autor von „Indigo“ in einer wilden Zettelsammlung, einem Artikel im National Geographic und schließlich sogar einem eigenen Buch nachspürt. Die entscheidende Spur führt nach Brüssel, zu einem Herrn Ferenz, der offenbar nur ein austauschbarer Name innerhalb eines bizarren Menschenquälprogramms ist. 

Der Mathematiklehrer, der das Rätsel der Indigo-Kinder zu lösen versucht, heißt wie der Autor des Romans Setz. Der reale Autor von „Indigo“, der 39jährige Österreicher Clemens Johann Setz, wäre auch beinahe Mathematiklehrer geworden, jemand also, mit dem man in der Welt der hohen Literatur nicht unbedingt rechnet. Und Kopfschmerzen kennt er auch. Kein Wunder also, wenn sich wie in „Indigo“ mathematische Präzision und sprachlicher Erfindungsreichtum zu wahnhafter Kunst vermengen und dafür dem gebürtigen Grazer am 6. November die renommierteste Auszeichnung für deutschsprachige Schriftsteller, der mit 50.000 Euro dotierte Büchner-Preis, verliehen wird. 

Abklingbecken für einen heißlaufenden Geist

Mit Stilmitteln der Neuen Sachlichkeit zieht der Autor von „Indigo“ den Leser in ein Verschwörungslabyrinth hinein, aus dem keiner von beiden wieder herausfindet. Sie erleiden damit das gleiche Schicksal wie David Lynch und seine Zuschauer bei „Twin Peaks“, der TV-Rätselserie aus den frühen Neunzigern: Ein gewaltiger Spannungsbogen wird aufgebaut, der am Schluß mit einer Vielzahl loser Enden in der Luft hängen bleibt. Ein gigantischer Ballon steigt mit nichts als heißer Luft immer höher, verschwindet plötzlich hinter einer Wolke – und weg ist er. Daß eine Geschichte nicht streng logisch aufgehen muß wie eine mathematische Gleichung, darin liegt ganz offenkundig der Reiz, den die Literatur auf den ehemaligen Mathematikstudenten ausübt: Literatur als Abklingbecken für einen heißlaufenden Geist.

Clemens J. Setz winkte eine Karriere als Programmierer, zu der es wohl auch gekommen wäre, hätten nicht Migräne-Attacken ihn in Konflikt mit den „flimmerigen“ Bildschirmen gebracht, vor denen Programmierer einen Großteil ihrer Arbeitszeit verbringen. Computerzeitschriften waren ihm als Alternative auf Dauer zu „seelenlos“, so der Preisträger im Gespräch mit der ARD. „Irgendwann bin ich auf was Seelenvolleres gestoßen, nämlich so kleine Gedichte, kurze Gedichte.“

Von seiner poetischen Potenz kann sich ein Bild machen, wer den Lyrikband „Die Vogelstraußtrompete“ (2014) in die Hand nimmt. Auch der im letzten Jahr erschienene Essay „Die Bienen und das Unsichtbare“, der sich mit Kunstsprachen wie Esperanto, Volapük oder dem von den Machern der „Raumschiff Enterprise“-Saga ersonnenen Klingonisch befaßt, ist voller Poesie. Setz arbeitet auch fürs Theater und legte mit „Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes“ (2011) und „Der Trost runder Dinge“ (2019) zwei Bände mit Erzählungen vor.

Sein literarisches Debüt feierte der Autor 2007 mit „Söhne und Planeten“, einem Roman über Vater-Sohn-Konflikte. In „Die Frequenzen“ (2009) nahm er das Thema wieder auf und führte es weiter. Der 700-Seiten-Roman, mit dem es Setz wie auch mit seinem dritten Roman „Indigo“ (2012) in die Endauswahl zum Deutschen Buchpreis schaffte, handelt von den beiden Schulfreunden Walter und Alexander, von problematischen Bindungen und Versuchen, sich aus diesen zu lösen.

Ein „einzigartiges Sensorium für die Verletzlichen in unserer Gesellschaft“ bescheinigte ihm Ernst Osterkamp von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, die den Büchner-Preis vergibt. Für seinen Roman „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ (2015) hatte Setz bereits den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis einheimsen können. Der Tausend-Seiten-Wälzer ist sein bislang größter Wurf. Er spielt in einer Heil- und Pflegeanstalt, einem Schauplatz also, der sich als Ausgangspunkt für große Literatur bewährt hat: Oskar Matzerath schilderte seine Erinnerungen in der „Blechtrommel“ als Insasse einer solchen. Thomas Mann ließ Hans Castorp im „Zauberberg“ dem Davoser Sanatorium, in dem er eigentlich nur kurz zu Besuch sein wollte, nicht mehr entrinnen. Und Clemens J. Setz macht in seinem Heil- und Pflegeanstaltsroman die Epileptikerin Natalie Reinegg zur Hauptfigur eines Panoptikums der Paranoia.

Die Handlung zerfasert in Nebensträngen 

Auf über tausend Seiten folgt der Leser dem Alltag der frischgebackenen Pflegekraft, darf dank personaler Erzählhaltung teilhaben an Begegnungen, Gedanken und Phantasien der 21jährigen Berufsanfängerin. In einer endlosen Folge kurzer Kapitel blättert Setz nach und nach Natalies Berufs- und Privatleben auf. Der Leser lernt Insassen und Pflegepersonal des Heims für Behinderte kennen, in dem sie ihre erste Stelle angetreten hat, erfährt von Natalies Ex, mit dem sie noch in regem Kontakt steht, von ihren vielen Macken und seltsamen Angewohnheiten, von ihrem vergeblichen Werben um den Obdachlosen Mario, von ihrem unappetitlichen Sexleben, das vor allem darin besteht, daß sie sich regelmäßig jungen Männern zu einer kurzen Lustbefriedigung anbietet: die lasterhafte Welt der Natalie. 

Es ist typisch für die Romane des Grazers, daß ein erzählerischer Kern fehlt und sich die Handlung in Nebenstränge zerfasert. Langweilig wird es trotzdem nie. Denn was sich zu Hause, unterwegs und im Beruf in Natalies Kopf (und nicht nur in ihrem) abspielt, das Crescendo zumeist maßlos verschrobener Gedanken – und darum geht es Setz vor allem –, das ist immer ziemlich originell und auch so formuliert. Eine Kostprobe: „Entwaffnet und koordinatenlos saß sie auf dem Küchenstuhl. Vor ihr die Schachtel mit der Maus. Wie Zeiger, die sich im Traum von einem Glockenturm lösen und in den Süden davonfliegen, fiel nach und nach alles, was Halt gab, von ihr ab. Bis der Stuhl irgendwo im Weltraum schwebte. Sie auf ihm. Ein Jägerhochsitz im Universum“. Platz ist auch für einen unorthodoxen Angriff auf die politische Überkorrektheit: „Ich verstehe nicht, sagte B [Natalies Kollegin], warum man die Wörter nicht mehr sagen darf. Neger, Zigeuner, Stalker, Medium. Wenn man nichts Abwertendes dabei denkt, ist es doch nicht schlimm, oder? Wie soll das Wort selbst wissen, was man sich dabei denkt?“ 

Die Sprache von Clemens J. Setz ist frei von Manierismen, modischen Ticks, Künstler-Pathos. Und trotzdem unglaublich bilderreich. Kaum ein Satz ohne originellen Vergleich oder illustrative Assoziation. Wie seine Vorgänger ist „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ ein Roman der Visionen, Assoziationen und Evokationen. Einer der Heimbewohner malt groteske Bilder. Ohne zu verraten, was darauf zu sehen ist, erweckt der virtuose Fabulierer allein durch die Macht des Wortes und der sprachlichen Insinuation im Kopf des Lesers die alptraumhafte Vorstellung von einem Gemälde des Grauens. Näher kann man mit Mitteln der Literatur dem ganz realen Wahnsinn nicht kommen. 

Wie seine Hauptfigur Natalie scheint der Autor im Hirn über eine kaum jemals versiegende Quelle hervorsprudelnder Ideen, Vorstellungen und sprachlicher Bilder zu verfügen, die man eigentlich nur als Ausfluß einer autistischen Sonderbegabung verstehen kann. Das unprätentiöse Erscheinungsbild des Autors scheint das zu bestätigen: Mit struppigem Bart, langer Mähne und löchriger Schirmmütze, so wie man sich eben den klassischen Nerd vorstellt, trat Setz im Juli vors Mikrophon der „Tagesschau“, um die diesjährige Wahl der Akademie des Georg-Büchner-Preises zu kommentieren: „Ich hätte eher erwartet, daß es jemand ist so wie letztes Jahr, wo ich noch kein Buch gekannt habe von der Person.“ 

Als in der Heil- und Pflegeeinrichtung kaum noch mit wachsender Spannung zu rechnen ist, weil lange nichts auf den einen Spannungshöhe- oder dramatischen Wendepunkt zulief, rückt der an den Rollstuhl gefesselte Alexander Dorm zunehmend ins Zentrum des Interesses. Dorm, homosexuell, stellte dem verheirateten Hollberg nach, dessen Frau sich unter dem Druck, der so entstand, das Leben nahm. Nun ist ausgerechnet Hollberg Dorms treuester Besucher. Natalie hält das für eine subtile Racheaktion. Sie beginnt Hollberg zu beschatten, bricht sogar bei ihm ein und begibt sich damit unmittelbar ins Zentrum eines kalkulierten Wahnsinns. 

Je mehr Setz seine Leser rätseln läßt über verborgene Motive und möglicherweise verbrecherische Absichten, je mehr er es im verborgenen knistern, unter der Oberfläche der wohl geordneten Anstaltswelt brodeln läßt, je mehr sich lange von allen Beteiligten geleugnete Konflikte bemerkbar machen, um so mehr erwartet, ja erhofft der Leser eine furiose, alles umwälzende und auf den Kopf stellende Entladung all dessen, was sich seiner Empfindung nach auf Hunderten von Seiten aufgeladen hat. Doch wie in dem unaufgelösten Verschwörungskrimi „Indigo“ zeigt sich auch am Ende des Pflegeheim-Psychogramms, daß es bedeutend leichter ist, Spannung aufzubauen, als sie am Ende durch eine explosive Enthüllung auch wieder aufzulösen. Ein Ausgang jedoch, der nicht nur jeden Erzählstrang zum logischen Abschluß führt, sondern auch jedem auf den vorangegangenen tausend Seiten präsentierten schrägen Detail auf einen Schlag den so lange verborgen gebliebenen Sinn verleiht und somit den Roman dastehen läßt wie einen farblich wieder ins Lot gebrachten Ernö-Rubik-Würfel, das ist erkennbar nicht, was Setz an Literatur reizt.

Mit der Formulierung der Akademie des Büchner-Preises, die an seinen Werken eine „verstörende Drastik“ lobte, die emotional berühre, wird man dem Grazer eher gerecht. Vieles von dem, was der Preisträger zu Papier gebracht hat, kann man aber auch als Luftnummer auffassen, als Zirkus-Kapriole mit lauter zappeligen Clowns, über die man heute kurz lacht und morgen nicht mehr spricht. 

Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung  www.deutscheakademie.de

Clemens J. Setz: Die Bienen und das Unsichtbare. Suhrkamp, Berlin 2020, gebunden, 416 Seiten, 24 Euro

Clemens J. Setz: Die Stunde zwischen Frau und Gitarre. Roman. Suhrkamp, Berlin 2015, gebunden, 1.021 Seiten, 29,95 Euro

Clemens J. Setz: Indigo. Roman. Suhrkamp, Berlin 2013, broschiert, 475 Seiten, 13 Euro

Foto: Schriftsteller Clemens J. Setz: Eine Geschichte muß nicht streng logisch aufgehen wie eine mathematische Gleichung