© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/21 / 22. Oktober 2021

Ein Fünftel der Kommunisten lief über
Der Historiker Udo Grashoff untersucht die Dimensionen des Genossenverrats früher Kommunisten im Nationalsozialismus
Jürgen W. Schmidt

Die KPD war um 1933 eine vorwiegend männlich geprägte Partei mit einem beständig fluktuierenden Mitgliederbestand von etwa 300.000 Genossen. Nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten war ein Überlaufen von Kommunisten zu NS-Organisationen (vor allem zur SA und in die NSDAP) gar nicht so selten, wie es auch schon vor 1933 so in beiden politischen Richtungen vorkam. 

Der Leipziger Historiker Udo Grashoff, der sich bereits zuvor intensiv mit dem Phänomen  des Wechsels früherer Kommunisten in die NSDAP und deren Gliederungen auseinandergesetzt hat, versucht in seiner nunmehr als Buch vorliegenden Habilitationsschrift die Anzahl der Kommunisten zu bestimmen, welche 1933 und später zur Gegenseite wechselten. Er kommt auf eine Zahl von rund 60.000 Mitgliedern, was immerhin ein Fünftel der Gesamtparteistärke bedeuten würde. Es gab sehr namhafte Kommunisten, welche die Seiten wechselten wie etwa den vormaligen Vorsitzenden der KPD-Reichstagsfraktion Ernst Torgler oder den vormaligen Berliner Gewerkschaftsfunktionär und engen Thälmann-Gefolgsmann, das ZK- und Politbüromitglied der KPD Wilhelm Hein. Doch war Hein schon zu Zeiten der Weimarer Republik als wichtigster V-Mann der Berliner Politischen Polizei innerhalb der KPD tätig und somit kein „echter“ Überläufer. Nach 1933 zog er sich gänzlich aus dem politischen Geschäft zurück, erhielt zur Belohnung eine lukrative Konzession als Gastwirt in Berlin-Wedding und von der Gestapo zusätzlich eine Pistole, um sich notfalls gegen KPD-Racheakte wehren zu können. Ein ähnlicher Fall war Richard Hamann, KPD-Mitglied und ehemaliger Führer der Berlin-Neuköllner Antifa, der während der Vernehmung als Zeuge im ersten Richardstraßenprozeß, bei dem es um Morde an SA-Männern bzw. dem Wirt eines „Sturmlokals“ von 1932 ging, auf spektakuläre Weise seinen Übertritt zur NSDAP bekannt gegeben hatte.

Doch neben weiteren, nicht ganz so namhaften KPD-Reichstags- und Landtagsabgeordneten kam die eigentliche Masse der Überläufer zum Nationalsozialismus aus dem Mittel- und Unterbau der KPD sowie aus den Reihen der einfachen KPD-Mitglieder. Die Ursachen waren vielfältig: Vom schlichten Überlaufen auf die Seite der stärkeren Bataillone über ideologische Enttäuschung, zeitweilige Momente der Schwäche, wirtschaftliche Not und auch blanke Gewalt und Erpressung seitens der Nationalsozialisten. Immerhin mußten sich nach 1945 der 2. Sekretär der Bezirksleitung der SED Neubrandenburg und auch der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Königswusterhausen für ihr damaliges ideologisches Straucheln rechtfertigen und wurden abgelöst. 

Besonders spannend wird das Buch, wenn Grashoff auf die gleichfalls nicht wenigen Fälle eingeht, in denen sich eine enge Zusammenarbeit zwischen Gestapo und KPD-Mitgliedern entspann. Der Gestapo gelang es mittels weitgefächerter und sehr zielgerichteter V-Mann-Arbeit, die Tätigkeit der KPD bis 1936 deutschlandweit zu zerschlagen und flächendeckend zu unterbinden. An einzelnen Stellen wie im KPD-Unterabschnitt Bayern-Süd gelangten Gestapo-V-Männer sogar in die Leitungspositionen, was das Aufrollen illegaler KPD-Netze stark beförderte. Recht schwer tat man sich hingegen seitens der Gestapo, mittels V-Leuten in die KPD-Exil-Organisationen im Ausland einzusickern. 

Besonders erfolgreiche V-Männer (natürlich befanden sich darunter auch V-Frauen) waren vormalige technische Mitarbeiter der KPD sowie die entsprechend vorgeschulten Mitarbeiter von Geheimorganisationen innerhalb der KPD (BB-Apparat und AM-Apparat), welche sich als ideologisch nicht so standfeste Naturen oder auch nur als ausgesprochene Abenteurer erwiesen, wofür Grashoff manches Beispiel anführt. Doch waren auch hier die Motive recht vielfältig und gingen von der Lust am Verrat an den vormaligen Gesinnungsgenossen bis zu Not, Druck, Erpressung, hin und wieder sogar durch Folter. Finanziell lukrativ war das V-Mann-Geschäft jedenfalls nicht, wenn man etwa von der Gestapo als Belohnung Rosenbergs Buch „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“ dafür bekam. 

Ein „Überlaufen“ kam häufiger vor, als bislang vermutet

Auch wenn aufgrund der diffusen Quellenlage Grashoff derartige Vorgänge nicht reichsweit erfassen und auswerten konnte, so sind seine vielfältigen Beispiele aus Berlin, Hamburg, Leipzig, dem Ruhrgebiet, aus Schlesien, Süddeutschland und von der Waterkant durchaus repräsentativ. Sie bezeugen, daß im Gegensatz zur einstigen hagiographischen Geschichtsschreibung der SED über den KPD-Widerstand „Verrat“ und „Überlaufen“ innerhalb der KPD weitaus häufiger vorkamen, als bislang vermutet. 

Parteiintern setzte sich die SED-Parteikontrollkommission, daneben natürlich das Ministerium für Staatssicherheit und dessen geheimpolizeiliche Vorgänger sowie auch die sowjetische Besatzungsmacht, umfassend mit derartigem Verhalten auseinander, selbst wenn Grashoff nicht explizit auf die mitunter drakonische Bestrafung abtrünniger KPD-Mitglieder nach 1945 eingeht. 

Brisant wird das Buch hingegen, wenn sich Grashoff dem üblen Kapitel der „Bestrafung von Verrätern“ seitens der KPD vor 1933 widmet. Grashoff glaubt hier deutlich zu erkennen, daß in der KPD, im völligem Gegensatz etwa zu „rechten“ Organisationen in Weimarer Zeiten, nur selten und aus ganz rationalen, nachvollziehbaren Gründen zum terroristischen Mittel der Ermordung von Verrätern gegriffen wurde. Gemäß Grashoff gab es keinerlei Feme-Tendenzen in der KPD. Hier unterschätzt Grashoff erheblich, daß gewisse, vor allem aber die sehr aktionistischen Teile der KPD (im BB- und AM-Apparat) mit der Sowjetunion und deren Geheimdiensten eng verbandelt waren und dort die Tötung von vermeintlichen Verrätern als völlig legitime Maßnahme galt. 

Grashoff bewegt sich insoweit in den Spuren von Bertolt Brecht, welcher 1930 im Lehrstück „Die Maßnahme“ zwar die Tötung von „Schwachgewordenen“ und „Verrätern“ befürwortete, aber später klammheimlich davon wieder abrückte. Es erstaunt entsprechend, daß Grashoff hier politischen Mord, wenn auch nur durch die Hintertür, gutheißt.

Udo Grashoff: Gefahr von innen. Verrat im kommunistischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Wallstein Verlag, Göttingen 2021, gebunden, 471 Seiten, 52 Euro