© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/21 / 15. Oktober 2021

Zur Fiskalunion einsteigen, bitte!
Vorsicht an der Bahnsteigkante: Die Überbrückungshilfe für die anderen zahlt auch die neue Koalition
Joachim Starbatty

Im vergangenen Bundestagswahlkampf haben die Politiker, die in den nächsten vier Jahren politische Verantwortung tragen, den Bürgern nicht gesagt, wie es in der Europäischen Union weitergehen soll. Insbesondere nicht, was die Europäische Währungsunion anbetrifft. Bleibt es beim „Weiter so“ oder wird sich die Bundesregierung von dem Kurs „Europa, Europa über alles“ abkehren? 

Bisher haben sich die Regierenden, wenn der Zusammenhalt der Eurozone in Gefahr war, von den Prinzipien einer Demokratie und den Pflichten eines Rechtsstaates abgesetzt. So geschehen in der lange zurückliegenden, doch folgenschweren Nacht vom 8. auf den 9. Mai 2010, als die europäischen Staats- und Regierungschefs an den nationalen Parlamenten vorbei die Währungsunion in Richtung einer Haftungsunion gesteuert und einen Rettungsschirm in Höhe von 750 Milliarden Euro aufgespannt haben, unter den sich notleidend gewordene Mitgliedstaaten flüchten konnten. Die Politiker haben ferner die Europäische Zentralbank (EZB) aufgefordert, eine Bürgschaftserklärung außerhalb ihrer Kompetenzen für überschuldete Mitgliedstaaten abzugeben, um die Eurozone nicht auseinanderbrechen zu lassen.

Auch die vertraglich verbotene monetäre Staatsfinanzierung durch die EZB – getarnt als Käufe auf dem Sekundärmarkt – dient dem Verbleib überschuldeter Mitgliedstaaten in der Eurozone. All dies war notwendig geworden, weil die Währungsunion sich aus wirtschaftlich ungleichen Mitgliedstaaten zusammensetzt und wie eine Zwangsjacke wirkt. Was freilich vorhersehbar war. International nicht wettbewerbsfähige Mitgliedstaaten können seither nicht mehr abwerten, um verlorengegangene Konkurrenzfähigkeit zurückzugewinnen, und eine langandauernde Austeritätspolitik soll keinem Mitgliedsland der Eurozone zugemutet werden.

Nur eines sollte es nicht geben – die sogenannten Eurobonds, für deren Verzinsung und Rückzahlung nicht diejenigen haften, die in den Genuß der am Kapitalmarkt aufgenommenen Gelder kommen, sondern die Mitglieder der Eurozone insgesamt. Eine solche Konstruktion hat in der Welt noch nie funktioniert, weil die Begünstigten damit rechnen, immer wieder gerettet zu werden und auf eigene Sanierung und deswegen auf politisch ungeliebte Reformen verzichten.

Wie sich die politische Klasse in Deutschland in Zukunft zur Währungsunion und zur Finanzierung ihres Zusammenhalts stellt, kann an der Haltung zum Eigenmittelgesetz der in der zurückliegenden Legislaturperiode im Bundestag vertretenen Fraktionen festgemacht werden. Dieses Gesetz hat der Bundestag im Frühjahr 2021 mit großer Mehrheit verabschiedet. Es sieht vor, daß die EU-Kommission über Eigenmittel in Höhe von 750 Milliarden Euro verfügt, die am Kapitalmarkt aufgenommen werden sollen, um die mit der Corona-Pandemie verbundenen Folgekosten in den Mitgliedstaaten zu finanzieren.

Für die SPD war dies, wie seinerzeit Finanzminister Olaf Scholz mit Genugtuung verkündete, der Einstieg in die Fiskalunion. Die Grünen sahen das ähnlich. Die FDP stimmte bis auf wenige Ausnahmen diesem Gesetz zu – mit öffentlich vorgetragenem Bauchgrimmen, das wohl Wähler beeindrucken sollte. Der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion wies die Auffassung Scholz’ vom Einstieg in die Fiskalunion mit Entschiedenheit zurück und machte die Einmaligkeit der der Pandemie geschuldeten Maßnahmen geltend. Doch läßt sich nachweisen, daß die beispielsweise Italien zufließenden Mittel in Höhe von 209 Milliarden Euro nicht Schäden durch die Coronamaßnahmen abmildern, sondern unterlassene Infrastrukturmaßnahmen kompensieren sollen.

Wenn unsere Volksvertreter ehrlich mit uns wären, müßten sie uns sagen, daß die Eurozone ohne deutsches Geld und deutsche Garantien nicht überlebensfähig wäre. Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron hat unsere Bundeskanzlerin überzeugen können, daß ohne den Einstieg in die Fiskalunion die Eurozone nicht fähig wäre, zu bestehen. Angela Merkel selbst schwieg, als Macron auf einer Pressekonferenz nach dem Europa-Gipfel die Verabschiedung der Corona-Rettungspakete als Einstieg in die Fiskalunion bezeichnete. Vor diesem Hintergrund können wir die wahrscheinliche Haltung der herrschenden Politiker in der Europapolitik gut vorhersagen.

Olaf Scholz wird als Bundeskanzler von diesem Weg nicht abweichen. Er wird ihn noch ein gutes Stück weitergehen. Er hatte seinerzeit als gerade installierter Finanzminister vor dem EU-Parlament das Konzept einer gemeinsamen europäischen Arbeitslosenversicherung vorgestellt, die nach Art einer Rückversicherung organisiert sein sollte. Dabei ist es in Wahrheit eine Versicherung auf Gegenseitigkeit und damit Bestandteil einer Haftungsunion. Die Grünen weiß Scholz auf seiner Seite. Die FDP wird sich zunächst sträuben, hat sie doch das Prinzip Eigenverantwortung auf ihre Fahnen geschrieben. Wenn es jedoch zum Schwur kommen sollte, gilt auch für Christian Lindner und seine Mitstreiter „Europa, Europa über alles“.

Werden sich die Christdemokraten gegen eine solche Politik stemmen? Einige aus den Reihen der Union werden es versuchen. Doch in ihrer Gesamtheit werden sie sich der Hypothek, die ihnen Angela Merkel hinterlassen hat, nicht entledigen können. Die Union wird schließlich nicht im nachhinein die Politik ihrer Kanzlerin – „der Euro ist alternativlos“ – desavouieren wollen.

Gegenwind wird allein von der Alternative für Deutschland kommen. Der wird allerdings den in EU-Europa gefahrenen Kurs schwerlich ändern können. Auch werden dann AfD-Abgeordnete unisono als „Anti-Europäer“ öffentlich gebrandmarkt. Dabei ist es genau umgekehrt: Das parteiübergreifende „Europa über alles“-Lager fügt der europäischen Einigung Schaden zu – und wird das Projekt womöglich zu Fall bringen.

Der frühere Bundespräsident Horst Köhler sieht das ebenso: „Ein institutioneller Umbau oder eine schleichende Veränderung zur Transferunion würde dem europäischen Projekt seine Konsens-Grundlage entziehen: die Freiheit und Selbstverantwortung der beteiligten Nationen und ihren fairen Wettbewerb untereinander. Keine Staatsnation in Europa ist bereit, fortlaufend die Rechnung für den Konsum einer anderen zu bezahlen.“