© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/21 / 03. September 2021

Kein Grund für Panik
Durchbruchsinfektionen bei Corona-Geimpften / Ist eine Kinderimpfung wirklich notwendig?
Jörg Schierholz

Vorige Woche waren 49,9 Millionen Personen in Deutschland vollständig gegen Covid-19 geimpft. Im Bundesschnitt lag die Impfquote bei 59,9 Prozent – mit auffälligem Gefälle zwischen Nordwest und Südost: 70 Prozent waren es in Bremen, nur 51,2 Prozent in Sachsen. Bei den über 60jährigen waren es laut den Daten des Robert-Koch-Instituts (RKI) bundesweit schon 83,7 Prozent. 53,9 Millionen waren zumindest einmal mit den mRNA-Vakzinen von Biontech (69,5 Prozent) und Moderna (8,1) oder den Vektor-Vakzinen von Astrazeneca (17,2) und Janssen (5,2) geimpft. Selbst bei 12- bis 17jährigen lag die Impfquote schon bei 29,8 Prozent.

Dennoch steigt die Zahl der positiv Getesteten kontinuierlich an. Vorigen Sonntag lag die 7-Tage-Inzidenz (Zahl der Ansteckungen pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen) bei 74,1 – es gab bundesweit 61.604 positive Tests. Die höchste Inzidenz hatte NRW (125,3), die niedrigste Sachsen-Anhalt (15,5). Verantwortlich für die „vierte Welle“ ist die dominierende Delta-Variante (B.1.617.2/indische Mutation) von Sars-CoV-2, die laut US-Gesundheitsbehörde CDC fast so ansteckend wie Windpocken ist.

Sogar Geimpfte, weitgehend unabhängig von der Art des Impfstoffs, können sich anstecken und diese Variante weitergeben. Aber sie sind immer noch oft vor schweren Covid-Verläufen geschützt. Dies ist an den deutlich langsamer steigenden Todeszahlen (bislang 92.130; seit Ende Juni unter 90 wöchentlich) belegbar. Klaus Stöhr, der ehemalige Leiter des WHO-Impfprogramms, sieht dies als Beleg für die Entkopplung von Inzidenz und Sterblichkeit. Das Schauen auf die Inzidenzen allein wäre damit hinfällig. Allerdings können Delta-Infizierte trotz Impfung eine hohe Viruslast tragen und damit das Virus ähnlich leicht weitergeben wie Ungeimpfte.

Die Viruslast bei Geimpften sinkt aber schnell wieder. Und laut RKI-Wochenbericht sind 94 Prozent der Covid-Patienten auf Intensivstationen ungeimpft. In Großbritannien mit einer Impfquote von über 70 Prozent entfällt bereits ein Drittel aller Hospitalisierungen auf vollständig Geimpfte, da Delta zu einem Rückgang der Impfstoffwirkung von 75 Prozent auf 62 Prozent geführt hat. Laut der britischen React-1-Studie erkrankten doppelt geimpfte Personen damit dreimal seltener als ungeimpfte Personen. Der Anstieg der Fallzahlen dort wie im restlichen Europa war vor allem auf Infektionen von jüngeren Menschen zurückzuführen.

Laut einer Studie des Houston Methodist Hospital wurden seit März 17 Prozent der Delta-Fälle bei Geimpften gefunden; dreimal so viele wie die Rate der Durchbruchsinfektione unter allen älteren Sars-CoV-2 Varianten zusammen. Vollständige Impfungen schützen auch bei Delta vor dem Tod – aber sie bieten keinen absoluten Schutz. Das gilt umsomehr bei multimorbiden oder alten Patienten.

Langzeitnebenwirkungen der neuen Vakzine noch nicht erforscht

Auch das Nebenwirkungsprofil der Impfstoffe wird transparenter. Laut einer Studie mit zwei Millionen Geimpften der Providence-Krankenkasse in den US-Staaten Montana, Oregon und Washington sowie Los Angeles war es zu 20 Fällen einer Herzmuskelentzündung (Myokarditis) und 37 Fällen einer Herzbeutelentzündung (Perikarditis) gekommen. Die Myokarditis trat häufiger bei Jüngeren wenige Tage nach der zweiten Dosis (Biontech bzw. Moderna) auf. Die Perikarditis wurde bei älteren Personen mit einem längeren Intervall nach beiden Dosierungen beobachtet.

Laut dem Paul-Ehrlich-Institut (PEI) sind in Deutschland bis zum Juni 1.028 Menschen gestorben, nachdem sie gegen Corona geimpft wurden. Im PEI-Studienzeitraum gab es 75 Millionen Impfungen. „Die Wahrscheinlichkeit, daß diese Personen zufällig nach der Impfung, aber wegen ihres zum Teil hohen Alters oder an ihrer Vorerkrankung verstorben sind, ist sehr hoch“, erklärte PEI-Vizepräsident Stefan Vieths. Klarheit über die Kausalität der Todesfälle wäre nur durch Obduktionen zu erhalten, die in Deutschland aber nur selten durchgeführt werden. Auch mögliche Langzeitnebenwirkungen der neuen Vakzine sind noch nicht erforscht.

Daher wird die Diskussion um Impfungen von Kindern kontrovers geführt. Deren Immunsystem ist in den Schleimhäuten der Atemwege viel aktiver als das von Erwachsenen. Es reagiert deutlich schneller auf Viren, wie die Arbeitsgruppe um Irina Lehmann (Charité Berlin) herausfand. Kinder haben mehr Immunzellen in den Schleimhäuten, produzieren antivirale Typ-I-Interferone schneller und sind auch vor der Fehlregulation des Immunsystems besser geschützt, die bei vielen schweren Verläufen auftritt. Deshalb erkranken Kinder und auch Jugendliche äußerst selten schwer an Covid-19. Am 10. Juni hatte die Ständige Impfkommission (Stiko) daher empfohlen, daß Kinder ohne Immundefekte zwischen 12 und 17 Jahren nicht geimpft werden sollen. Die Empfehlung stieß allerdings auch auf Kritik, weil ihr eine Schreckens-Modellierung zugrunde liegt.

Auch „Long-Covid“ (Spätfolgen einer Corona-Erkrankung) sei selten und das Multisystem Inflammatory Syndrome (MIS) inzwischen gut beherrschbar. Nun aber empfiehlt die Stiko, wohl unter politischen Druck, die Impfung für Kinder – allerdings ausgehend von einem Negativ-Szenario mit einer Inzidenz von über 500 bzw. 95.000 positiv Getesteten pro Tag im Herbst und 36 Intensivstationsaufenthalten von Kindern. Die Impfempfehlung gilt für Biontech und Moderna gleichermaßen, obgleich das Moderna-Vakzin in den USA in der Altersgruppe von 12 bis 17 Jahren wegen einer höheren Myokarditis-Rate nicht zugelassen ist. 

Die 50er-Inzidenz sollte aber ausgedient haben, Hospitalisierungs- bzw. Todesraten sollten Hauptmaßstab für weitere Maßnahmen sein. Da es im Herbst saisonbedingt höhere Zahlen geben wird, wird man auf Maske und Abstandhalten nicht verzichten können. Vorsicht und moderater Optimismus sind angesagt – keine Panik.

Britische „React 1“-Studie:  hdl.handle.net

„Myocarditis and Pericarditis After Vaccination“:  jamanetwork.com