© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/21 / 03. September 2021

Ein blasses Sommergespenst
Literatur: Judith Hermanns Roman „Daheim“ spielt mit dem Dualismus von Weite und Enge
Dietmar Mehrens

Es ist gar nicht so leicht, die Faszination der Geschichten von Judith Hermann zu erklären, die vor 23 Jahren mit dem Erzählband „Sommerhaus, später“, für den sie den Kleist-Preis erhielt, kometenhaft in den deutschen Literatur-Olymp aufstieg. Seine Fortsetzung, „Nichts als Gespenster“ (2003), wurde sogar verfilmt. Sie habe in ihren Geschichten einen ganz eigenen Ton gefunden, lautete eine Erklärung, die so oder ähnlich häufig zu hören war. Es ist in der Tat ein lakonisch-melancholischer Grundton, der Hermanns Prosa prägt, ein Ton, der auch die schlimme Heimsuchung und das einschneidende Erlebnis stets nur in stoisch und unaufgeregt wirkenden Sätzen schildert. Wenn der Nachwuchs flügge wird und das Haus verläßt, hört sich das bei ihr so an: „Kinder wecken Gefühle in dir und gehen los und lassen dich mit den Gefühlen im Regen stehen.“

Daß aber nicht zwangsläufig auch die große Form, den Roman, beherrscht, wer sich große Meriten im Bereich Kurzprosa erworben hat, ist eine Binsenweisheit. Den Zauber seiner masurischen „So zärtlich war Suleyken“-Erzählungen sucht man in den Romanen von Siegfried Lenz vergeblich. Kaum ein Roman Heinrich Bölls blieb so im Gedächtnis wie seine kürzeren Erzählungen, die aus der Anthologie „Wanderer, kommst du nach Spa …“ etwa. Und der Ruhm Wolfgang Borcherts, der sich mit Kurzgeschichten wie „Das Brot“ oder „Nachts schlafen die Ratten doch“ ins kollektive Gedächtnis von Nachkriegsdeutschland brannte, verdankt sich überhaupt keinem Roman.

Die Berliner Schriftstellerin Judith Hermann ließe sich ebenfalls auf diese Liste schreiben. Ihr erster Roman, „Aller Liebe Anfang“ (2014), über einen zudringlichen Verehrer löste ein geteiltes Echo aus. Mit „Daheim“ legt sie nun ihr zweites längeres Prosawerk vor. 

Das große Drama liegt der Prosakünstlerin nicht

Die Anekdote, mit der sie ihren Roman beginnen läßt, könnte – und das ist symptomatisch – als Kurzgeschichte auch für sich stehen. Die 47jährige Ich-Erzählerin blickt darin zurück auf ein Ereignis, das dreißig Jahre her ist: Ein Zauberer legte sie probeweise in eine dieser Kisten, die auf der Bühne in der Mitte durchgesägt werden, wobei dann die Illusion entsteht, die Person in der Kiste würde in zwei Teile geschnitten. 

Die klaustrophobische Enge von Kisten, die zugleich tödliche Fallen sein können, macht die Autorin zu einem Leitmotiv von „Daheim“. Es begegnet dem Leser in zwei weiteren Spielarten: als Marderfalle, mit der sich die Heldin eines lästigen vierbeinigen Hausbesetzers zu entledigen sucht, und als Folterkasten, in dem die psychisch lädierte Freundin ihres Bruders als Kind eingesperrt wurde, ein Grund für den dauerhaft kritischen Zustand der Beziehung.

Eingebettet sind die drei Kistendramen in eine Handlung, die so unspektakulär wie schnell zusammengefaßt ist: Die Heldin des Romans hat sich nach dem Auszug ihrer Tochter Ann, einer jugendlichen Abenteurerin, und der Trennung von ihrem Mann Otis, einem „Messie“, für einen Neuanfang in einem einsamen Haus an der Ostsee entschieden. In einem kleinen Küstenort betreibt ihr Bruder eine Gaststätte, in der sie aushilft. Über ihre Nachbarin Mimi lernt sie deren Bruder Arild kennen, den Besitzer eines Schweinemastbetriebs. Ein Typ Mann, den sie bisher nicht kannte. Angezogen von seiner rustikal-vitalen, pragmatischen Art, beginnt sie mit Arild eine Affäre, von der sie selbst nicht weiß, wo sie hinführen soll. Ist sie, die das Weite suchte, schon bereit für neue Nähe?

Wie Wellen, die bei leichtem Seegang ans Gestade einer abgelegenen Küste klatschen, plätschert die Handlung vor sich hin; das große Drama liegt der feinen Prosakünstlerin erkennbar nicht. Als der Leser sich längst damit abgefunden hat, daß sich hier nichts Sensationelles mehr zutragen wird, überschattet plötzlich ein furchtbarer Todesfall das Küstenidyll und eine der Hauptfiguren gerät unter Mordverdacht.

Ein ehrlicher weiblicher Blick auf selbst verursachte Nöte

Doch wie schon in den Novellen des Bandes „Alice“ von 2009 ist Hermanns Umgang mit dem dunklen Gevatter eher achselzuckend und der Tod nichts, was ihre stets nonchalante Art zu schreiben zu einem Ausflug ins Exaltierte veranlassen könnte. „Daheim“ geht es um anderes, um die Spiegelung zeitgenössischer Befindlichkeiten vor allem. Ängste, Bindungsstörungen, Vereinzelung und Vereinsamung, Neurosen und Psychosen: Es ist ein ehrlicher weiblicher Blick auf die selbst verursachten Nöte unseres Zeitalters, der diesen Roman prägt.

Hermanns Sprache ist so klar wie knapp. Sie schreibt „Affaire“ und „Tic“ statt „Affäre“ und „Tick“, und daß der Pekinese der Vietnamesin, die im Buch vorkommt, zu keiner anderen Hunderasse gehört, sondern eben ein Pekinese sein muß, verrät, daß für die Dichterin der Klang der Sätze, die sie schreibt, mindestens so wichtig ist wie deren Inhalt. Genau das war eben einer der Gründe dafür, daß sie rasch eine beachtliche Fangemeinde um sich scharen konnte, die ganz gewiß auch von ihrem neuen Werk faszinierter ist als der von Adorationseifer freie Durchschnittsleser.

„Ein blasses Sommergespenst“ nennt die Erzählerin irgendwann die Freundin ihres Bruders. Eine schöne Metapher auch für diesen Roman.

Foto: Erzählerin Judith Hermann (Archivfoto 2011): Ihre Sprache ist so klar wie knapp