© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/21 / 27. August 2021

Grüne Schnellschüsse
Industrie: Die deutsche Chemie- und Pharmaproduktion legte im ersten Halbjahr kräftig zu
Marc Schmidt

Die Chemie- und Pharmabranche konnte als drittgrößte deutsche Industriebranche erneut Rekordergebnisse vermelden. Die 465.000 direkt beschäftigten Mitarbeiter in den 1.700 in Deutschland ansässigen Unternehmen steigerten ihre Produktion gegenüber dem Vorquartal um 1,4 Prozent, was einen Umsatz von 52,4 Milliarden Euro auslöste. Angesichts der hohen Kapazitätsauslastung von fast 86 Prozent erwartet der Verband der Chemischen Industrie (VCI) zudem verstärkte Investitionen.

Dabei sahen sich die VCI-Mitglieder während der Corona-Krise mit verschiedenen Einschränkungen konfrontiert. Neben pandemiebedingten Werksschließungen, Zwangskurzarbeit und Störungen in der internationalen Lieferketten verzeichneten die Firmen eine veränderte, steigende Nachfrage, oft allerdings in Verbindung mit verschlechtertem Zahlungsverhalten. Die Chemie gilt neben dem Maschinenbau als Konjunktur-Frühindikator und innerhalb der Industriebranchen als ein politischer Seismograph für die Rahmenbedingungen an einem Standort. Wie bei der Energieerzeugung sind die Produktionsstätten umfangreichen Regularien unterworfen und schwierig anzusiedeln.

Der VCI als führendes Mitglied des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) widersetzt sich verbal natürlich nicht dem grünen Zeitgeist, sondern verspricht, daß eine „Transformation zu einer klimaneutralen Wirtschaft“ in Deutschland unter entsprechenden Rahmenbedingungen und bei massiven Investitionen in die Infrastruktur möglich sei. Dies setze aber ein hohes Maß an technischer Innovation voraus, die auch stark auf neuen Materialien und Werkstoffen basiert. In diesem Kontext kritisiert der VCI die aktuellen Pläne der EU-Kommission zum Verbot auch bereits registrierter chemischer Stoffe, wenn diesen durch die Brüsseler Bürokratie ein hypothetisches Gefährdungspotential beim Einsatz in der Produktion unterstellt wird.

Neben den derzeit zugelassenen chemischen Stoffen wären auch Neuentwicklungen und ihre Zulassung für Produktion und Verbrauch betroffen. Diese oft in kleinen Mengen eingesetzten Stoffe, die an einzelnen Stellen unter anderem die Seltenen Erden ersetzen sollen, würden in Europa unter diesen Bedingungen nicht mehr erforscht und produziert. Unter Berücksichtigung der Tatsache, daß beispielsweise bei der Produktion eines Computerchips über tausend Chemikalien zum Einsatz kommen, läßt sich das Gefahrenpotential der grünen Wünsche im Europaparlament und der Kommission erkennen.

In diesem Zusammenhang moniert der VCI auch die oft fehlende Vertretung deutscher Interessen in Brüssel durch die Bundesregierung und die Parteien im EU-Parlament. Dabei wäre eine auf technische Innovation ausgerichtete Klimapolitik durchaus stimulierend, wie die Entwicklung industrieller Kernbranchen der US-Wirtschaft zeigt, die von umfangreichen Investitions- und Förderprogrammen der Regierung in Washington profitiert. Der VCI vermißt vergleichbare Programme in Deutschland oder der EU und erwartet auch nach der Bundestagswahl keine deutliche Verbesserung der Wirtschaftspolitik, wenngleich dies in den Positionspapieren höflich gefordert wird.

Durch die Klimapolitik droht die Abwanderung von Unternehmen

In den Wahlprogrammen der potentiellen Regierungsparteien erkennt der VCI hingegen einen Klima-Überbietungswettbewerb auf Basis von Regulierungen und Verboten in Verbindung mit deutlich steigenden Preisen für Verbraucher und Unternehmen. Über das „Klimaschutz-Sofortprogramm“ der Grünen schrieb der VCI sogar unter der Überschrift „Peitsche ohne Zuckerbrot“, dies sei ein „Schnellschuß“, der sich bei einer Umsetzung aufgrund der reinen Verbotsstrategie und ohne die notwendigen Entlastungen als Verteuerungs- und Verhinderungsstrategie für den Produktionsstandort Deutschland erweisen würde.

Befragt nach den Investitionshemmnissen in einer Zeit niedriger Zinsen und hoher Kapazitätsauslastungen, nannten 77 Prozent der Chemie- und Pharmafirmen fehlende Planungssicherheit als Grund ausbleibender oder verhaltener Investitionen, 75 Prozent gaben auch die zu hohen Energiepreise als investitionsverhindernden Standortnachteil an. Die durch die Bundesregierung erhöhten Brennstoffpreise und die steigenden Kosten im EU-Emissionshandel (ETS) haben den durchschnittlichen Strompreis für die Chemieindustrie an der Leipziger Strombörse gegenüber 2020 nahezu verdreifacht.

Der aktuelle Jahresdurchschnitt von etwa fünf Cent pro Kilowattstunde (kWh) als Nettostrompreis liegt deutlich über dem Niveau vor Corona. Für die Zukunftsfähigkeit der Branche am Standort Deutschland sei allerdings ein dauerhafter Durchschnittspreis der Börse von vier Cent pro kWh notwendig – was etwa in Schweden der Fall ist, wo aber zwei Drittel des Stroms aus Wasser- und Atomkraft kommen. Zudem müßten subventionsbasierte Umlagen zur Förderung unrentabler Techniken wie das EEG abgeschafft werden.

Besondere Brisanz erhalten die VCI-Forderungen durch die Hochrechnung des Bedarfs an Ökostrom im Grundlastbereich bis zum Klimaneutralitätsjahr 2050. Bis zu diesem Zeitpunkt wird die dann angeblich „klimaneutral“ umgestellte Branche voraussichtlich 600 Terawattstunden (TWh) Ökostrom verbrauchen – sofern dieser zu vier Cent und grundlastfähig bereitgestellt werden kann. Dies scheint illusorisch: Die deutsche Gesamtstromerzeugung lag 2019 bei nur 516 TWh, davon waren 287 TWh Atom, Kohle und Gas. Doch ohne diese Rahmenbedingungen beim Strompreis wie der grundlastfähigen Menge werde die Industrie nicht in der Lage sein, klimaneutral zu produzieren und ihre Produktionsprozesse, etwa durch den Einsatz von Wasserstoff, umzustellen.

Da aber eine Fortsetzung der aktuellen Produktion unter den politisch angekündigten Rahmenbedingungen unmöglich erscheint, besteht die Gefahr von Firmenschließungen und Abwanderung. Oder zeitgeistig formuliert: Es droht Carbon Leakage, also die Verlagerung der CO2-relevanten Produktion in Regionen außerhalb der EU. Die geplanten Grenzausgleichsmaßnahmen der EU („Klimazoll“, Carbon Border Adjustment/CBA) dürften an China, Indien und den USA scheitern. Aber die Sorgen der drittgrößten deutschen Industriebranche spielen in der derzeitigen Klimapanik keine Rolle.

 www.vci.de

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