© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/21 / 13. August 2021

Wie große Meisterwerke riechen
Impressionistisches Lustwandeln: Die Staatsgalerie Stuttgart zeigt die vielbeachtete Ausstellung „Mit allen Sinnen“
Felix Dirsch

Der französische Schriftsteller und diesjährige Jubilar Marcel Proust war ein jüngerer Zeitgenosse jenes kunstgeschichtlichen Umbruches zwischen 1862 und 1886, der maßgeblich die Epoche der Moderne einleitete. In seinem Klassiker „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ schildert er, wie ein in Tee eingetauchter Kuchen ein wahres Feuerwerk an Erinnerungen entfacht. Vergangene Ereignisse sind im Gedächtnis so präsent, als wären sie soeben geschehen. Auf diese Weise können Glücks- wie Unglücksgefühle hervorgerufen werden. Solche Kaskaden entziehen sich in der Regel der Bewußtseinssteuerung.

Derartige Assoziationen, ausgelöst durch Geruch, Geschmack und andere sinnliche Wahrnehmungen, lohnen auch auf dem Gebiet der Kunst einer näheren Betrachtung. Verschiedene Synästhesien werden schon seit längerem im Kontext mehrerer Disziplinen (Kunst, Literatur, Musik) untersucht, in den letzten Jahren verstärkt unter Zuhilfenahme von Ergebnissen der Neurobiologie.

Wenn die sinnliche Wirkung der Kunst hervorgehoben werden soll, so bietet sich eine Schau impressionistischer Werke geradezu an. Farben, Licht und Atmosphäre werden selbst zu zentralen Themen des Bildes. Das konkrete Objekt hingegen verliert seine herausragende Bedeutung, wird zweitrangig. Einen besonderen Nachdruck verleiht diese Vorgehens- und Herangehensweise dem vergänglichen Augenblick, der flüchtigen Wahrnehmung. Ein Kuß kann so zu einem beeindruckenden Ereignis werden.

In der Natur wollten die Maler das wahre Leben darstellen

Nun findet sich zwar in der aktuellen Stuttgarter Ausstellung kein Gemälde, das einen Kuß zeigt, aber dafür zahlreiche andere Motive von weltberühmten Meistern, die flüchtige Momente festhalten wollten. Die Maler gingen oft in die Natur hinaus (nicht selten die Staffelei im Gepäck), um das wahre Leben darzustellen. Diese damals neuen Sujets von verschneiten Städten, blühenden Landschaften, Frauen bei der Toilette, Menschen bei der Feld- und Fabrikarbeit, die Darstellung von Amme und Kind, Tänzerinnen, Lesenden und vielen weiteren erscheinen heute wenig aufregend. Seinerzeit galten sie jedoch als nicht bildwürdig. Die Tradition der Salons und offiziellen Ausstellungen setzte auf kanonisierte mythologische wie religiöse Themen. Gerade die Herrschenden versprachen sich auf diese Weise pädagogische Einflüsse auf die Untertanen.

Neben anderen sind Werke von Manet, Monet, Renoir, Pissarro, Gauguin und Degas zu bestaunen. Die 60 Exponate stammen zum Teil aus eigenen Beständen, zum Teil werden sie auch von privater und öffentlicher Seite zur Verfügung gestellt. Die Präsentation ist in mehreren Räumen gut überschaubar und gegliedert in die Bereiche „Fühlen“, „Schmecken“, „Hören“, „Riechen“ und „Sehen“.

Es lohnt sich, zumindest bei einigen Gemälden eine Zeitlang zu verweilen, um die assoziativen Eindrücke auf sich wirken zu lassen und innere Reaktionen zu erkunden. Nehmen wir als Beispiel nur Pierre-Auguste Renoirs Werk „Das Gewächshaus“. Bei vielen Interessierten dürften, wenn sie davorstehen, vor dem geistigen Auge Erinnerungen an Erlebnisse aufsteigen, die sie mit früher erfahrener Blütenpracht verbinden. Beim Betrachten meint man es zu vernehmen: Grillen zirpen im Hintergrund, Bienen summen, Vögel zwitschern. Es macht sich schnell eine Atmosphäre bemerkbar, die weit über das Sichtbare hinausgeht. Doch nicht nur das Gehör dürfte sich bei diesem Anblick angesprochen fühlen. Man glaubt ebenso den Duft von Pflanzen zu riechen, etwa der Rosen. Das Werk „Flieder in einer Glasvase“ von Édouard Manet, 21 mal 27 Zentimeter klein, wird wohl bei allen Vorbeiziehenden den Duft der gezeigten Pflanze assoziieren.

Die Bilder erzählen von der Flüchtigkeit des Daseins

Ähnlich dürfte es den meisten Besuchern ergehen, wenn sie das Gemälde von Camille Pissarro „Frauen beim Jäten“ betrachten. Keine der Frauen wird aufrecht dargestellt. Alle berühren den Boden, stehen also in unmittelbarem Kontakt zur Erde. Man erinnert sich an den Moment, als man selbst zuletzt Erde in der Hand hielt. Die Arbeiterinnen dürften aber nicht nur Erde in ihren Händen gefühlt haben, sondern auch Unkraut oder Brennesseln. Die Erfahrungen dadurch ausgelöster schmerzhafter Schwellungen sind vielen bekannt. Monets berühmte Darstellung „Seerosen“ führt das Phänomen der Lichtreflexion am Wasser derart eindrucksvoll vor, daß bei etlichen Besuchern wohl weniger Erlebnisse an Teichen und Seen hochkommen als Erinnerungen an Sonnenuntergänge.

Die Motive von Manet, Monet, Pissarro und anderen Malern jenes Zeitalters, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die über viele Generationen überlieferte Bilderwelt der Salons und Akademien obsolet wirken ließen, sind längst selbst klassisch und fixieren eine schon lange untergegangene Epoche. Doch die „verlorene Welt der Impressionisten“, wie sie Alice Bellony-Rewald, Kulturkorrespondentin verschiedener französischsprachiger Zeitungen, in ihren gleichnamigen Buch 1976 beschrieben hat, ist in gewisser Hinsicht noch die unsere. Deren Schöpfungen faszinieren nach wie vor. Vor allem ist es die immer noch beeindruckende Wiedergabe der alltäglichen Welt, die diese Künstler zu Zeitgenossen macht. Die Flüchtigkeit des Daseins und die sich ständig wandelnde Umgebung waren für viele damalige Zeitgenossen eine vielleicht nicht so selbstverständliche Erfahrung wie für uns Heutige. Letztlich ist aber die so vielfältige Moderne nie so anschaulich dargestellt worden wie auf diese Weise. Wir leben im Zug der Zeit, der immer schneller fährt. Die Oberflächlichkeit der Pinselstriche war und ist ein starker Hinweis darauf und ein genuiner Reflex des Künstlerischen. Heute so – und morgen so.

Ein sehr gelungenes interaktives Element ist noch hervorzuheben: die gestengesteuerte Projektion. Stellt man sich parallel zu ihr, kann man über Handbewegungen Teile eines Bildes freilegen – bis es komplett sichtbar ist. Die projizierten Bilder sind auch in der Ausstellung zu sehen. Über diese schrittweise Annäherung soll das Sehen geschult und auf Details hingewiesen werden. 

Abgesehen von diesem immer wieder aktuellen Grundzug ist auf einen weiteren Aspekt aufmerksam zu machen, der manchem Besucher wohl gar nicht unmittelbar auffällt: „Mit allen Sinnen“ verweist auf die besondere Relevanz der unmittelbaren Sinnlichkeit. Angesichts der forcierten digitalen Transformation, der auch im Ausstellungswesen der Nach-Corona-Zeit eine immer größere Rolle zukommen wird, dürfte zukünftig der Mehrwert von Präsenzausstellungen immer stärker diskutiert werden. Sind primäre Formen von Kunstgenuß nicht doch den sekundär-medialen vorzuziehen? Es ist doch durch nichts zu ersetzen, wenn man vor den Gemälden steht und sie zum Greifen nahe sind.

Zur Vertiefung des Gesehenen lädt der Begleitkatalog ein. Er beinhaltet neben den Abbildungen der gezeigten Gemälde inspirierende Beiträge des Essayisten Nicolas Flessa.

Die Ausstellung „Mit allen Sinnen! Französischer Impressionismus“ mit 60 Exponaten ist noch bis zum 5. September in der Staatsgalerie Stuttgart, Konrad-Adenauer-Straße 30-32, täglich außer montags von 10 bis 17 Uhr, Do. bis 20 Uhr, zu sehen. Tel: 0711 / 470 40-0. Das Begleitbuch kostet im Museum 24,90 Euro www.staatsgalerie.de

Foto: Pierre-Auguste Renoir, Das Gewächshaus, Öl auf Leinwand, um 1876: Grillen zirpen, Bienen summen, Vögel zwitschern – schnell macht sich beim Betrachten des Bildes eine Atmosphäre bemerkbar, die weit über das Sichtbare hinausgeht