© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/21 / 23. Juli 2021

Der Flaneur
Tattoos und Paranoia
Burkhard Voß

Auf nichts ist mehr Verlaß. Die eigene Wahrnehmung kann man sowieso vergessen. Wie gestern beim Joggen. Vor mir eine junge Frau mit einer abenteuerlich gemusterten Strumpfhose, in der gelbe, rote, grüne, schwarze, rosane und violette Farben wellenförmig aneinander vorbeiflossen und mich verwirrten. Das Kleidungsstück erkannte ich nicht, mein spontaner Gedanke war: Was ist denn das für ein beklopptes Tattoo? Dann erkannte ich die Hose.
War ich sekundenweise paranoid? Durchaus möglich. Als praktizierender Psychiater kann man schon mal sein bester Patient werden. Oder mutiert unsere Gesellschaft zum psychiatrischen Patienten? Auch möglich. Der Run zum Psychiater und Psychotherapeuten kann schon seit Jahren nur durch drei bis sechs Monate Wartezeit notdürftig gebremst werden. Diese Deutung wurde mir sympathisch. Wenn einer Gesellschaft ständig Beklopptheiten aufgetischt werden, dann kann man irgendwann nur noch Beklopptheiten wahrnehmen. Irgendwann erkennt man die Realität nicht mehr, sieht Tattoos statt Strumpfhose. Macht eine aufgehübschte grüne Küchenhilfe zur Kanzlerkandidatin. Sieht Weltklimarettung statt den Furor teutonicus oekologikus. Interpretiert Behindertensprech als geschlechtersensible Kür der deutschen Sprache.
Kurz vor dem Streckenende, kreuzt wieder eine Frau den Weg; diesmal ist die Tätowierung echt.
Wichtig ist, daß geglaubt wird, nicht was tatsächlich ist. Geglaubt wird beispielsweise, daß durch die Frauenquote eine überragende Sachkompetenz erreicht wird. Oder daß von den Worten Diversität, Homophobie, Transphobie, Rassismus, Sexismus oder struktureller Rassismus mindestens eines in keinem Satz fehlen darf.
Kurz vor dem Ende meines Laufes war ich fasziniert, nicht irritiert. Da ging doch schon wieder eine junge Frau mit Tattoos auf den Beinen. Diesmal echt, keine Strumpfhose. „Annalena. Jetzt“ prangte auf der Haut des Oberschenkels. Offensichtlich konnte man sich doch noch auf etwas verlassen. Wenigstens auf den Geist der Grünen, der es nach 40 Jahren endlich geschafft hatte, vom Gehirn bis zur Haut vorzudringen und zwei Worte zu formulieren. „Inhalte überwinden“ hätte auch gepaßt.



Ich biete Bilder an. Ich beschwör Erinnerungen an Freiheit. Doch können wir nur Türen öffnen; wir können Leute nicht hindurchschleifen.

Jim Morrison (1943–1971)