© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/21 / 16. Juli 2021

Die Spaltung vertiefen
Während Johnson aussteigt, hält die hiesige Politik an Corona-Maßnahmen fest
Michael Paulwitz

Corona-Panik spaltet. Nach anderthalb Jahren „Pandemie“-Politik herrscht in den Führungsetagen der deutschen und europäischen Politik weithin Planlosigkeit. Der gesichtswahrende Ausstieg aus dem Modus des improvisierten Ausnahmezustands fällt den Mächtigen schwer. Mancher hat sich an das bequeme diskussionslose Durchregieren offenbar gewöhnt. Das Festklammern der deutschen Politik an der aufgetürmten Maßnahmenpolitik scheint selbst naheliegende und dringend gebotene Kurskorrekturen nur in homöopathischen Dosen zuzulassen.

„Alternativlos“ ist das schon lange nicht mehr. Vor der Haustüre der EU exerziert Großbritannien vor, wie es anders geht: Dort naht am 19. Juli der „Freiheitstag“, an dem alle Corona-Beschränkungen fallen und die Verantwortung in die Hand der Bürger zurückgelegt wird. Die steigenden Covid-19-Infektionszahlen beeindrucken Premierminister Boris Johnson wenig, obwohl der „Inzidenzwert“ nahe 300 deutschen Politikern furchterregend in den Ohren klingeln muß. Die Zahl der schweren und kritischen Erkrankungen verharrt aber ebenso wie der Anteil der Todesfälle auf niedrigem Niveau.

Die britischen Zahlen scheinen zu bestätigen, was deutsche Virologen im Sommer 2020 vorausgesagt hatten: daß das Coronavirus Sars-CoV-2 sich durch schnelle Mutationen an den menschlichen „Wirt“ anpaßt und dabei zwar ansteckender, aber eben auch weniger gefährlich wird, sich also im Laufe der Zeit in den endemischen Reigen der Grippe- und Influenzaerreger einreiht, mit denen die Menschheit zu leben gelernt hat und weiter leben muß.

Selbst das strenge Singapur, das mit einem rigiden Isolations- und Quarantäneregime die Infektionszahlen über ein Jahr hinweg nahe Null gehalten hat, will dazu übergehen, den Covid-Erreger wie einen normalen Grippevirus zu behandeln. Schließlich sei ein Großteil der Einwohner geimpft und so gegen schwere Verläufe geschützt. Nach 18 Monaten harter Maßnahmen sei die Bevölkerung schlicht „kampfmüde“.

Mit derlei nüchternem Pragmatismus tun deutsche Politiker sich schwer. Die Regierenden in Bund und Ländern lassen angesichts verschwindend geringer „Infektionszahlen“ zwar die Zügel lockerer, wollen sie aber nicht aus der Hand legen.

Schon die überfällige Revidierung der statistischen Grundlagen erfolgt allenfalls in Trippelschritten. Zwar kündigt jetzt auch das Robert-Koch-Institut (RKI) an, künftig neben dem fragwürdig gewordenen „Inzidenzwert“ auch Hospitalisierungen und schwere Erkrankungen als Leitindikator für den Stand der Corona-Gefahr zu nutzen. Kritiker der geltenden Corona-Maßnahmen drängen darauf allerdings schon seit vielen Monaten. 

Daß Bundesgesundheitsminister Jens Spahn erst nach mehr als einem Jahr „Pandemie-Politik“ genauere Daten zu Corona-Fällen von den Krankenhäusern abfragen will, klingt eher nach skandalösem Versäumnis als nach Erkenntnisfortschritt. Ob daraus auch eine Politikwende folgt, ist fraglich; schließlich ist schon länger bekannt, daß in Krankenhäusern, sei es aus politischer Gefälligkeit oder aus Subventionsgier, die Situation dramatisierend verzerrt dargestellt und Belegungszahlen manipuliert wurden. Und die Bundesregierung selbst stellt klar, daß sie an der heiligen Kuh des „Inzidenzwerts“ festzuhalten gedenkt.

Diese von der realen Infektionslage abgekoppelten Zahlen benötigt sie offensichtlich, um ihrer ins Stocken geratenen Impfkampagne Nachdruck zu verleihen, die mehr und mehr zum Selbstzweck verkommt. Deshalb nutzt sie das Auftreten von mit griechischen Buchstaben etikettierten ansteckenderen Virus-Varianten zur Aufrechterhaltung von Angst und Alarmismus, ignoriert starke Hinweise auf mögliche geringere Gesundheitsrisiken. Die als aktuelle Zielmarke ausgegebenen Impfquoten von 85 Prozent und mehr der Bevölkerung sind unerfüllbar hoch und lassen kaum Raum mehr für individuelle Entscheidungen und am Wohl des einzelnen orientierte Risikoabwägungen.

So wird die Karotte immer höher gehängt für die Bürger, die sich in der Hoffnung auf ein Ende der Maßnahmen abmühen wie der Maulesel um die sprichwörtliche Belohnung. Dahinter steckt die durchschaubare Absicht, die gesamte Bevölkerung auf Impfkurs zu bringen und die regierungsamtliche Lesart durchzusetzen, daß regelmäßig wiederholte Impfungen der einzige Ausweg aus der „Pandemie“ seien.

Das vordem beschworene Tabu, es werde keine allgemeine Impfpflicht und keinen Impfzwang geben, wird dabei zusehends löcherig. „Ohne Impfen keine Freiheit!“ droht der bayerische Ministerpräsident Markus Söder. Sogenannte „Ethiker“ fordern nach dem Vorbild anderer Staaten Impfpflichten für einzelne Berufsgruppen wie Pädagogen, Medizinpersonal oder Sicherheitskräfte oder wollen Impfnachweise zur Voraussetzung für die Teilnahme am öffentlichen Leben machen. 

Dabei räumt inzwischen auch der notorisch regierungsfreundliche Divi-Präsident Gernot Marx ein, Covid-19 werde „aus Sicht der Intensivmedizin zu einer normalen Grippe“. Faktisch fährt der von Scharfmachern wie Emmanuel Macron oder Markus Söder geheizte EU-Zug in Richtung einer generellen Impfpflicht gegen endemische Grippeviren.

An Perfidität grenzt, wie Jugendliche und Schulkinder für diese Politik in Geiselhaft genommen werden. Obwohl ihr Risiko für schwere Erkrankungen gegen Null geht, drängt die Politik auf ihre Einbeziehung in die Impfkampagne und setzt die Minderjährigen selbst, ihre Eltern und die Ständige Impfkommission Stiko, die eine generelle Impfempfehlung aus medizinischen und wissenschaftlichen Gründen standhaft verweigert, mit sozialer und moralischer Erpressung, unbelegtem „Long Covid“-Geraune und der Drohung mit abermaligen Schulschließungen unter Druck. Alternativvorschläge wie den Einbau von Luftfiltern in Klassenzimmer holen sie allenfalls lustlos und verspätet mit durchschaubar symbolpolitischer Alibifunktion hervor. 

Außer „Impfen, impfen, impfen“ haben Merkel, Spahn, Söder und die Riege der Maßnahmenpolitiker erkennbar noch immer keinen Plan für einen Weg aus der Corona-Krise.