© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/21 / 09. Juli 2021

Frisch gepreßt

Schuldverweigerer. Der Gefreite Al-fred Wagner, Jahrgang 1921, entschloß sich während der Kursker Schlacht im Juli 1943, den Karabiner wegzuwerfen. Er hatte Glück, wurde „vom Iwan“ nicht sofort erschossen und wanderte in ein Kriegsgefangenenlager in der kasachischen Steppe. Dort blieb ihm das Glück hold, ein Militärarzt schickte ihn schon im Sommer 1945 heim nach Freiburg. Wo er sein philologisches Studium begann, das ihm eine Karriere bis hoch zum Studiendirektor eröffnete. Der Soldat, der nie im Kampf gestanden und der auch im Kursker Getümmel keinen Schuß abgefeuert hatte, gründete eine Familie, errichtete ein Neckermann-Fertighaus, wählte CDU und repräsentierte den sich als „bürgerlich“ empfindenden Mittelstand des bundesdeutschen Südwestens. Diesem Mustermann-Milieu entstammt sein 1963 geborener Sohn Gerald, der heute regelmäßig im FAZ-Feuilleton schreibt. Und der im Rückblick auf die väterliche Biographie nun feststellt, daß der zwar eine militärische Null war und weder an der Front noch im Hinterland jemandem ein Haar gekrümmt hatte. Trotzdem war er „natürlich ein Täter“, weil ja „alle deutschen Soldaten Mittäter waren“. Schlimmer noch: er sei ein sich „dickfellig“ allen Verdrängungsvorwürfen entziehender „Schuldverweigerer“ gewesen und habe geglaubt, „daß er sich tatsächlich nichts vorzuwerfen hatte“. Ein dem schuldstolzen Sohn unerträglicher Irrtum, den nachzuweisen er bis in die Niederungen des Kulturkriegs um das Berliner „Mahnmal der Schande“ zwischen Neil MacGregor und Monika Grütters bemüht ist. (ob)

Gerald Wagner: Dabeigewesen. Ein Versuch über den Stolz. Konstanz University Press, Konstanz 2021, gebunden, 146 Seiten, Abbildungen, 18 Euro





Oberschlesien. Es lag nahe, sich hundert Jahre nach dem blutigen Gemetzel am Annaberg, wo der Streit um die deutsch-polnische Zukunft Oberschlesiens kulminierte, dieser Region zu widmen, über die in Deutschland „eine undefinierte Unsicherheit zutage tritt“, wie Andrzej Kaluza und Julia Röttjer im Vorwort des 32. Jahrbuchs Polen bemerken. Dabei stellt das sich über zwei Woiwodschaften erstreckende Land zwischen Glatzer Neiße und oberer Weichsel in vielerlei Dingen eine Besonderheit für beide Nationen dar: Nirgends war vor 1945/46 das Nebeneinander zwischen Deutschen und Polen enger, und keine Region hatte danach durch Spätaussiedler und die heute noch dort lebende deutsche Minderheit direkteren Einfluß auf die Gegenwart der Bundesrepublik, deren Brückenbauerfunktion weit über Fußballidole wie Miroslaw Klose oder Lukas Podolski hinausgeht. So zeichnet das Jahrbuch einen facettenreichen Überblick auf eine spannungsgeladene Geschichte wie auch auf den Charakter einer Bergbau- und Industrieregion in der Metamorphose. (bä)

Deutsches Polen-Institut: Jahrbuch Polen 2021. Oberschlesien. Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2021, broschiert, 294 Seiten, Abbildungen, 15 Euro