© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/21 / 02. Juli 2021

Maastrichter Imperium
Der französische Philosoph Michel Onfray und die Europäische Union
Michael Dienstbier

Trotz aller Probleme ist Frankreich ein Land, in dem die freie Debatte Teil der kulturellen DNS geblieben ist. Querdenker werden dort nicht diffamiert und kriminalisiert, sondern als Bereicherung empfunden. Einer der bekanntesten ist der Philosoph Michel Onfray. Ursprünglich von der politischen Linken kommend, gilt er heute als Vertreter eines Querfront-Milieus, das sich nationale Souveränität, kulturelle Identität und soziale Sicherheit auf die Fahnen geschrieben hat. Sein Hauptfeind: die EU, von Onfray nur „Maastrichter Imperium“ genannt, die in ihrer totalitären Ausprägung in unmittelbarer Nachfolgerschaft der großen Diktaturen des 20. Jahrhunderts stehe. In seinem neuen, in Frankreich heiß diskutierten Buch „Theorie der Diktatur“ analysiert der Autor die beiden großen Dystopien George Orwells – „1984“ und „Farm der Tiere“ –, um diese mit den Entwicklungen in der real existierenden EU zu vergleichen.

Die beiden Romane haben für Onfray den Stellenwert einer fiktionalisierten politischen Philosophie. Obwohl in den 1940er Jahren unter dem Eindruck des stalinistischen Terrorregimes geschrieben, seien sie nahtlos auf das im Vergleich eher sanft erscheinende totalitäre System der Gegenwart übertragbar. Ausgehend von seiner Lektüre Orwells identifiziert Onfray sieben Merkmale einer Diktatur, unter anderem die Zerstörung der Freiheit, die Verarmung der Sprache oder die Verleugnung der Natur. 

Die längsten Kapitel des vorliegenden Buches fassen die beiden Romane Orwells zusammen und untersuchen sie anhand der oben genannten Kriterien einer Diktatur. Dabei sind die reinen Inhaltsangaben viel zu lang geraten. Gelungen ist vor allem das abschließende Kapitel, in dem Onfray die einzelnen Bestandteile der dystopischen Szenarien Orwells auf heute überträgt und erschreckende Parallelen feststellt: Ein von einer Elite erfundener Neusprech dient als Macht- und Unterdrückungsinstrument, die natürliche Polarität der Geschlechter gilt als reaktionär, und im Namen von Komfort, Fortschritt und Gesundheitsschutz etabliert sich gerade ein digital-allumfassendes Überwachungssystem, gegen das die Geheimdienste der roten und braunen Diktaturen der Vergangenheit geradezu amateurhaft wirken. 

Dem Buch vorangestellt ist das lesenswerte Vorwort der ungarischen Historikerin Mária Schmidt, die in der zur Zeit tonangebenden Allianz aus „liberalem Menschenrechtsfundamentalismus und globalem Kapitalismus“ die weiche Variante des humanitaristischen Totalitarismus erkennt, den Orwell bekämpfte. Eine empfehlenswerte Lektüre, auch wenn die einordnend-interpretierenden Passagen auf Kosten der nur reproduzierenden zu kurz kommen.

Michel Onfray: Theorie der Diktatur. Jungeuropa Verlag, Dresden 2021, 224 Seiten, broschiert, 22 Euro