© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/21 / 25. Juni 2021

Soja-Latte für die Truppe
Wie das Dritte Reich zur Ernährungssicherung auf moderne Konservierungs-verfahren setzte
Paul Leonhard

Den in Stalingrad im Winter 1942/43 eingeschlossenen Soldaten der 6. Armee und 4. Panzerarmee hätte zumindest der Hungertod erspart werden können. Denn in den Depots im Reich lagerten ausreichend Sonderverpflegungsmittel. „Die Erkenntnis, mit 124 Tonnen den Bedarf von 250.000 Mann decken zu können, kam jedoch acht Wochen zu spät“, schreibt die Historikerin Daniela Rüther. Das zuständige Heeresverpflegungsamt war schlichtweg nicht darüber informiert worden, daß eine ganze Armee bei Stalingrad eingeschlossen worden war.

Von speziellen Konzentraten, die im Dezember noch hätten eingeflogen werden können, erfuhr Generalfeldmarschall von Manstein, Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Don, erst Mitte Januar. Auch Reichsführer SS Heinrich Himmler hatte keine Ahnung, welche modernen Verpflegungsmöglichkeiten die dem Oberkommando des Heeres (OKH) unterstehenden deutschen Ernährungsspezialisten für die Truppe entwickelt hatten, denn in einem Schreiben an Oswald Pohl, Chef des SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes, vom 25. Januar 1943 heißt es: „Die Ernährungsschwierigkeiten unserer Truppen in Stalingrad zeigen mir, wie wenig wir auf derartige Lagen vorbereitet sind.“

Gleichzeitig klagte Himmler gegenüber seinem SS-Verwaltungschef, „wieviel konserviertes und mit allen Vitaminen versehenes Fleisch“ man hätte gewinnen können, wenn alle gefallenen Pferde in der Weise behandelt worden wären, wie es die Mongolen taten“, und forderte diesen nicht nur auf, dem Fleischtrocknungsverfahren der Mongolen auf die Spur zu kommen, sondern auch bis zum Winter eine Million Portionen einer Konzentrat-Verpflegung zu schaffen, „welche zur Versorgung von Kesseln usw. eingesetzt werden und alle erforderlichen Nahrungsmittel enthalten soll“.

Verpflegungsdesaster des Ersten Weltkrieges nicht wiederholen

Dies gab es allerdings längst, wie Daniela Rüther in ihrem Buch „Der Fall ‘Nährwert’. Ein Wirtschaftskrimi aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges“ nachweist. In diesem zeichnet sie die Geschichte der am 14. Januar 1940 gegründeten Gesellschaft für Nährwerterhaltung mbH nach, der bedeutende Firmen der Lebensmittelbranche wie die Knorr AG, Dr. Oetker, Wilh. Schmitz-Scholl/Tengelmann angehörten und die – Rüther spricht von einem Public-Private-Partnership-Projekt des Heeresverwaltungsamtes – im Auftrag des OKH lebensmitteltechnische Konservierungsverfahren erforschen und verwerten sollte, vor allem das Trocknen von Gemüse und Obst, ohne daß dieses an Vitamingehalt, Quellvermögen, Geruch und Geschmack einbüßt. Dazu sollte das in den USA entwickelte, patentgeschützte Sardik-Verfahren der schonenden Trocknung mittels dampfbeheizter Walzen umgangen werden, was der als Trocknungsspezialist geltende bayerische Tüftler Georg A. Krause übernahm.

Ziel der Nationalsozialisten war es einerseits, Deutschland unabhängig von Lebensmittelimporten zu machen, Hungersnöte der deutschen Bevölkerung während des Krieges auszuschließen und die eigenen Soldaten ausreichend mit vitaminreicher Kost zu versorgen. Die Voraussetzungen dafür waren schwierig. Bereits 1934/35 kam es zu einer Brotkrise, und zwei Jahre vor Kriegsausbruch mußten Butter und Schmalz rationiert werden. Mit Kriegsbeginn wurden Brot, Fleisch, Fett, Käse, Milch, Zucker, Marmelade, Eier und Nährmittel rationiert.

Um das Verpflegungsdesaster des Ersten Weltkrieges nicht zu wiederholen, wurde den Ernährungswissenschaften im NS-Staat ein hoher Stellenwert eingeräumt. Aus „volksbiologischen Gründen“ sowie denen der Leistungssteigerung sollten sich die Deutschen gesünder ernähren: Weg von zu viel Fleisch, hin zu Obst, Gemüse und Austauschstoffen für Eiweiß. Statt Weizenbrot sollte Vollkornbrot gegessen werden. „Wir verwenden Frisch-, Halb- und Ganzdauerwaren, Trocken-, Gefrier- und Dosenkonserven, geben nicht zu viel Fleisch und dafür Fisch, Käse, Gemüse, Obst, wir reichern die Kost mit Milch-, Soja- und Hefeeiweiß an und liefern Komprimate und Konzentrate, insbesondere auch Vitamin-C-Drops“, lobte Geheimrat Ernst Pieszczek, Generalstabsintendant im OKH, Ende Oktober 1940. Das Trocknungsverfahren hatte zudem den Vorteil, daß das knappe Blech ausschließlich für Fleisch-, Fisch- und Milchkonserven verwendet werden konnte und für den Transport der gleichen Menge getrockneten Gemüses gegenüber Konservendosen nicht 10 bis 15 Eisenbahnwaggons, sondern lediglich einer benötigt wurde.

Während unter der Federführung der „Nährwert“ erfolgreich unterschiedliche Paprikas, Eiertomaten, Pfirsiche, Himbeeren, Erdbeeren, Aprikosen, Apfelmus, Kartoffelpüree, Gewürze, Zwiebeln, Küchenkräuter, Lauch, Sellerielaub und -knollen, Petersilienwurzeln und -laub in Anlagen in Ungarn, Bulgarien und Holland getrocknet wurden, versuchten der Reichsgesundheitsführer und die SS im für die NS-Zeit typischen Kompetenzgerangel die Erfolge der Nährwert in Frage zu stellen. Außerdem experimentierte die SS mit natürlichen Vitaminquellen, einem Marschgetränk auf der Basis von Teepreßlingen und favorisierte als „innovative pflanzliche Alternativeiweißquelle“ Bratlingspulver, ein mit verschiedenen Kräutern gewürztes, feinkörniges Gemisch aus Soja, Getreide- und Milcheiweißprodukten, das aufgrund seines neutralen Eigengeschmacks anderen Gerichten beigemischt werden konnte und in der Herstellung äußerst billig war.

Die Nährwert mbH sei in den fünf Jahren ihrer Existenz eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte gewesen. Sie erhöhte ihre Umsätze von fünf auf 55 Millionen Reichsmark in den ersten zehn Monaten 1943. Das hergestellte Trockengemüse und -obst sowie diverse Trockenpulver erhielten höchste Qualitätssiegel der maßgeblichen Aufsichtsbehörden. Das Unternehmen sei ein Paradebeispiel für eine „wissenschaftlich basierte Ernährung, die durch das Wissenskartell aus Staat, Industrie und Wissenschaft durchgesetzt werden sollte“. Allerdings sei „im Rückblick nicht qualifizierbar, welche Mengen an Trockengemüse und Trockenpulver tatsächlich beim einzelnen Soldaten an der Front ankamen“, schreibt Rüther, zumal die Zuführung in Pulverform für den Soldaten nicht erkennbar war: „Die Produkte der Nährwert trugen daher wohl nur in sehr geringem Maße zur Ertüchtigung der Truppen bei.“

Letztlich bestand die vorwiegende Kost des Landsers nicht aus Gemüse, Soja- oder Hefeprodukt, sondern aus dem Grundnahrungsmittel Brot. So zeigt das letzte Foto von Rüthers durchaus spannender Fallstudie einen beherzt in ein Butterbrot beißenden Fallschirmjäger.

Daniela Rüther: Der „Fall Nährwert“. Ein Wirtschaftskrimi aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Wallstein Verlag, Göttingen 2020, gebunden, 228 Seiten, Abbildungen, 24,90 Euro

Foto: Fleischkonserven für die Wehrmacht, Heeresverpflegungsamt Januar 1940:  Wissenschaftlich basierte Ernährung