© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/21 / 25. Juni 2021

Apokalyptisches Sprechen
Hypothesenzivilisation: Zu Beginn des 21. Jahrhunderts zeichnet sich die endgültige Erschöpfung des aufklärerischen Zeitalters ab
Konstantin Fechter

Am Anfang des letzten Tages liegt ein sonderbarer Ton in der Luft. Fast würde er vertraut klingen, brächte er nicht die dunkle Ahnung eines bevorstehenden Blutvergießens mit sich. Erst langsam und monoton, kündet er immer drängender von dem Abgrund, der ihm folgen wird. In der Offenbarung des Johannes sind es sieben Posaunen, aus denen das blecherne Signal zu den wahren Gläubigen wie den Verdammten gleichermaßen dringt. An Ragnarök schlägt eine einsame Trommel den stampfenden Takt zu den Schritten der Riesen und Trolle, die gekommen sind, um die Götter herauszufordern.

Der Regisseur Francis Ford Coppola läßt sein im Vietnamkrieg angesiedeltes Absurditätsepos „Apocalypse Now“ beginnen, indem sich das Surren von Helikopterrotoren der U.S. Army mit dem psychedelischen Gitarrenspiel des The-Doors-Songs „The End“ zu einem unentrinnbaren Sog der Konfusion vereint. Wenn die fliegende Kavallerie vor dieser Klangkulisse ihren Napalmbrand über den Dschungel regnen läßt, dann lodert dort mehr als die grüne Hölle, jenes undurchdringbare Stellungslabyrinth der Kämpfer des Vietcongs. In den Flammen gehen die letzten Reste einer bürgerlichen Vernunftkultur auf, die nur noch als Befindlichkeitsdekoration für junge, amerikanische Männer diente, deren Leben längst durch den exzessiven Konsum von LSD, Rock’n Roll und Mickey Mouse geprägt war. Die von den Explosionsgewittern gefesselten Augen des Betrachters bestätigen nur, was über die Akustik längst mitgeteilt wurde: Das Ende ist da.

Was aber macht dieses Ende, jenen unerlebbaren Augenblick des fallenden Vorhangs, so erzählenswert? Die Apokalypse ist mehr als der Untergang einer Welt, die finale Aussetzung von Raum und Zeit. Die größte anzunehmende Katastrophe vollzieht sich nicht im letzten aller Momente, sondern ist vom Beginn ihrer Verkündung an präsent. Sie ist ein Zeichensystem der Enthüllung und Aufdeckung, eine geheime Botschaft von den Propheten und Sehern an ihre Gemeinde. Wenn die Wissenden zu den Unwissenden sprechen, dann nur mit dem Anspruch auf absoluten Gehorsam. Die Überwältigung des Hörenden, seine vollständige Aufnahme in die Allmacht ihrer Erzählung, das ist die Absicht der apokalyptischen Sprache. Angst und Neugierde begleiten diesen Sprechakt, der die höchste, da endgültige Wahrheit konstituiert und somit nur die andächtige Unterwerfung des staunenden Einzelnen fordern kann. 

Die Verkündung des Endes ist also vor allem eine Befreiung aus der Tyrannei der Fragen. Der französische Poststrukturalist Jacques Derrida arbeitete den suggestiven Tonfall dieser spezifischen Sprachform heraus. Er lockt, er fordert, er zwingt: „Ich weiß es, ich weiß es, ich sage es dir, jetzt weißt du es, komm.“

Mit dem Übergang zum Laizismus der Moderne wurde die Religion von ihrer bisherigen Pflicht, die Hüterin der letzten Wahrheit zu sein, entbunden. Durch die Inthronisation des wissenschaftlichen Fortschrittsethos als dominierende Ausdrucksform des rationalistischen Denkens schien auch der apokalyptische Stil als Relikt der Vergangenheit überholt. Die Zukunft war nun eine strahlende, der Mensch begierig auf ihren Beginn. Gemäß dem aufklärerischen Leitbild sollte die unwiderlegbare Faktizität des Meßbaren die Grundlage einer Debattenkultur bilden, in der Einwilligung nicht länger ein Akt der Unterwerfung bleiben, sondern zum Prozeß erkenntnisgebundener Einsicht reifen würde. 

Die im Licht der Mündigkeit entstehende Wissensgesellschaft bildet einen Sozialcharakter des permanenten Umbruchs aus. Sie kennt keine unumstößlichen Anschauungen mehr, sondern nur das fortschreitende Experiment in Form eines steten Hinterfragens alles bisher Erreichten. Der Philosoph Robert Spaemann sprach in diesem Zusammenhang von der „hypothetischen Zivilisation“, welche sich in einem Zustand der ständig zu überprüfenden Annahme befindet und dadurch die Instabilität von Weltbildern als systemimmanentes Faktum in sich trägt. Was einerseits als eine nicht versiegende Quelle von Dynamik und Innovation fungiert, erzeugt an anderer Stelle ein gefährliches Akzeptanzproblem. Denn ein auf Hypothesen errichtetes Gesellschaftsverständnis leidet an Überzeugungsschwäche, da es seinen Partizipanten keine Gewißheit jenseits des ständigen Optimierungszwangs vermitteln kann. Indem die Relativierungsverpflichtung jegliche Erkenntnis und die sich daraus ableitenden Lebensperspektiven auf eine provisorische Übergangsbetrachtung reduziert, ergibt sich eine flüchtige Atmosphäre, in welcher die Zukunft erneut die Gegenwart gefährdet. Wenn aber das Morgen zum Unheimlichen gerät und nur durch die vollständige Auslöschung des Heute vorstellbar wird, dann eröffnet dies eine Wiederkehr der apokalyptischen Spielart.   

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts zeichnet sich die endgültige Erschöpfung des aufklärerischen Zeitalters ab. In von Raubbau verwüsteten Landstrichen, den unwürdigen Lebensbedingungen von Abermillionen Menschen und einem Massensterben der Fauna zeigt ein unaufhaltsam gewordener Fortschritt längst seine dunkle Seite. Im Zuge der rasanten Übertechnisierung ist die Welt in eine Phase der Wiederverzauberung getreten. Der Einzelne ist täglich umgeben von sonderbaren Konstrukten, deren Sinn und Funktionsweise sich ihm nicht mehr genau erschließen. Sein Bewußtsein kann nicht mehr Schritt halten mit der vorgetakteten Geschwindigkeit im autonomen Maschinenpark. Wird die Gesellschaft aber zum hybriden Technohuman-Konstrukt, benötigt sie weniger die Volkssouveränität als Entscheidungsträger, sondern die Wartungskünste der Fachgremien zur ihrer Instandhaltung. Diese beanspruchen, als einzige den Überblick über ein kybernetisches System im Spannungsfeld zwischen Quantencomputer und Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen behalten zu haben.  

Mit der Verschiebung der Machtinstanzen beginnt ein Wandel von der säkularisierten Demokratie hin zur wissenschaftsgläubigen Technokratie. Diese realisiert sich, wenn alle Bereiche des menschlichen Lebens nicht mehr ohne Bezug zu seinen mechanischen oder digitalen Artefakten denkbar geworden sind. In ihr vollzieht sich eine vollständige Politisierung der Wissenschaft, deren Vertreter aus der Sphäre des neutralen Hypothesenprüfers hinüber in die eines Funktionärs treten. In dieser Radikalisierung des Rationalismus herrscht die maximale Distanz zu den Regierten, die lediglich als unbelehrbare Fehlerquelle betrachtet werden.

Die Verheißung der Technokratie lockt dort, wo die Hyperkomplexität des Globalsystems Erde nur noch in einer abstrakten Fachsprache, geprägt von quantitativer Argumentation und Sachzwängen, darstellbar ist. Je weniger die Bevölkerung dazu bereit ist, ihren Lebenswandel trotz Mahnungen vor Klimakatastrophe, Ressourcenendlichkeit oder pandemischen Bedrohungen einzuschränken, desto aggressiver wird der unheilverkündende Jargon der ökotechnokratischen Parteigänger. In der von ihnen entfachten Entbehrungslust soll die entfesselte Verschwendungsgesellschaft einem Rationalisierungsregime unterstellt werden, und das Opfer als rituelle Verzichtshandlung erfährt einen neuen Stellenwert.  

Entmündigung wird zur Parole, wenn das Rechenmodell den Menschen als den eigentlichen Risikofaktor ausspuckt. Indem Zeit zur bedeutendsten Mangelressource erklärt wird, erübrigt die felsenfeste Überzeugung von der Evidenz der Katastrophe jede Debatte. Denn die ungeduldigen Prognoseersteller glauben sich im selben Dilemma wie einst Kassandra. Die verfluchte Tochter des trojanischen Königs Priamos war dazu verdammt, die Zukunft zu kennen und dennoch kein Gehör zu finden. Ihre Warnungen vor dem Untergang Trojas verhallen, Kassandra endet als Sklavin der Griechen, bis sie schließlich erdolcht wird.

Indem sich die technokratische Implementierung dem apokalyptischen Tonfall zuwendet, bemächtigt sich ihr kalter Kern der Anziehungskraft des priesterlichen Charismas. Auch wenn unaufhörlich mit Tabellen und Korrelationen argumentiert und dadurch ein dialektischer Prozeß simuliert wird, findet sich in ihm dieselbe Bildsprache der alten Überlieferungen: Meere verdampfen im Feuer, giftiger Regen fällt auf die Erde, Seuchen lauern im Nächsten. Dies verleiht ihrem Evangelium der Umgestaltung Durchschlagskraft im täglichen Ringen um die Ausgestaltung von Herrschaft. Durch den Rückgriff auf archaischen Ausdrucksgehalt schafft sich der rationale Diskurs jedoch selbst ab. Nicht mehr das pragmatische Zahlenwerk spricht für sich, sondern die Suggestion eines Untergangkollektivs flüstert unaufhörlich: Glaube uns oder das Ende naht. 

Unter der Rhetorik der endzeitlichen Prophezeiung prägen die verunsicherten Gemeinschaften der ökologischen Krise neue Endzeitkulte aus, deren Anhängerschaften naturwissenschaftliche Hypothesen als Religionsersatz nutzen. Die Schizophrenie der Wissensgesellschaft liegt darin, daß sie ihr eigenes Versprechen von Transparenz und Nachvollziehbarkeit nur für einen Kleinstkreis an Auserwählten garantieren kann. Sie scheitert am Verständnistransfer und erzeugt dadurch keine Wissenden, sondern Gläubige. Ableitungen aus der Stochastik und biophysikalischen Grundsätzen bleiben eine Geheimsprache der Eingeweihten, auch wenn sich die hohe Priesterschaft nun Expertenkommission nennt. Wird Wissen selbst zu einem Organ der Herrschaft, dann verliert es seine ursprüngliche Funktion als Spender von Erkenntnis und Freiheit. Für das Heer der Uneingeweihten unterscheiden sich derlei Zeichensysteme nur bedingt vom Mystizismus der Kabbala. Sie benötigen die mediale Aufbereitung der Lehre, den Vermittler zwischen Arkanum und zu Erleuchtenden. Durch das Auftreten des Repräsentanten gerät jedoch das Ideal der aufgeklärten Emanzipation durch Selbstbildung in den Hintergrund und Metafähigkeiten wie Überzeugungskraft, Interpretationsgeschick und Vernetzungsgrad des Multiplikators bestimmen über die Annahme einer Theorie oder ihreVerwerfung. 

Die Autorität der apokalyptischen Sprache bietet eine Ausflucht aus der quälenden Unsicherheit der Hypothesen-Zivilisation und ihrer Tyrannei der Fragen. Ihre sieben Posaunen künden von der endgültigen Vollendung aller flüchtigen Theorie und der Statik zweifelsfreier Gewißheit. So wird die Lehrmeinung zur unantastbaren Überlieferung, die sich selbst gegen Kritik immunisiert. Das macht die Annahme ihrer Dogmen so verführerisch. Denn wo der eigene Standpunkt nicht mehr hinterfragt werden kann, da beginnt das Reich der Ideologie. Diese mag über die Jahrhunderte immer neue Gesichter und Inhalte für ihre Utopien gefunden haben, sie alle beriefen sich aber auf dieselbe ewige Formel: Ich weiß vom Ende, glaube mir, komm.