© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/21 / 11. Juni 2021

Die großen überzeitlichen Fragen
Der Gräzist Thomas Alexander Szlezák hat über den griechischen Meisterdenker Platon ein Opus magnum verfaßt
Felix Dirsch

Oft wird als Beleg für die einzigartige wirkungsgeschichtliche Relevanz Platons das in die Jahre gekommene Bonmot des Philosophen Alfred N. Whitehead angeführt, die neuzeitliche Philosophiegeschichte bestünde nur aus Fußnoten zu Platon. Auch in der neuen grundlegenden Schrift des Altphilologen Thomas A. Szlezák wird dieser Satz angeführt. Der Tübinger Emeritus zeigt aber seine besondere Kenntnis von Leben und Werk der griechischen Geistesgröße bereits darin, daß er das bekannte Zitat vor allem auf Platons Lehre von den Ideen bezieht. Sie wird in der Neuzeit tatsächlich auf vielfältige Weise rezipiert, besonders in der „Phänomenologie des Geistes“ bei Hegel. Ansonsten hat Platon für diverse philosophische Disziplinen wesentliche Grundlagen gelegt (Staatsdenken, Erkenntnistheorie, Anthropologie, Ethik, etc.). Bis in die Gegenwart wird er als Wegweiser zum Guten, Wahren und Schönen gesehen. Jedoch gibt es auch diverse Schattenseiten in dem großen Œuvre, die nicht ausgeblendet werden sollten.

Szlezáks Buch gliedert sich in drei Teile: Leben, Werk, Denken und zwei Anhänge zum Siebenten Brief sowie zu Platons Ironie. Der Autor stellt ausführlich den Lebenslauf dar, der in Teilen natürlich zu rekonstruieren ist. Die Quellen weisen Lücken auf. Vor allem um die Reisen des griechischen Meisterdenkers ins tyrannische Syrakus ranken sich seit der Antike viele Legenden. Wolfgang Schadewaldt, einer von Szlezáks Lehrern, fragte nicht ohne Häme 1934 Martin Heidegger in der Freiburger Straßenbahn, ob er nun (nach kurzer NS-Begeisterung) aus Syrakus zurückgekehrt sei. Weiter sind die philologischen Debatten um die Echtheit des Siebten Briefs Platons bis heute nicht verstummt. Diskussionen um Datierung, Chronologie und Stil der Dialoge gab und gibt es also genug.

Szlezák geht an das Objekt seiner Forschungen notwendigerweise mit gewissen Vorprägungen heran. Zwei verstorbene ältere Tübinger Kollegen, Hans Joachim Krämer und Konrad Gaiser, haben sich in weltweit rezipierten Studien Verdienste um den „esoterischen“ Platon erworben. Dabei geht es um die Frage, wie Platons Andeutungen um den authentischen Kern seines Werks zu verstehen sind. Lange Zeit, bis ins frühe 19. Jahrhunderts, war unstrittig, daß Platon wesentliche Teile seiner Lehre mündlich weitergeben wollte. Er machte aus seiner kritischen Einstellung zur Schrift nie einen Hehl.  

Mit Friedrich Schleiermacher und Friedrich Schlegel trat im frühen 19. Jahrhundert eine Wende ein: Das nunmehr anhebende bürgerliche Bildungsideal konnte eine solche Vermittlung von Weisheiten nicht akzeptieren. Die schriftliche Kommunikation galt nunmehr als Ideal. Krämer und Gaiser haben hingegen die mündlich transponierte Lehre bei vielen antiken Rezipienten Platons herauszuarbeiten versucht. Diese Rehabilitationsbemühungen der „ungeschriebenen Lehre“ haben beiden Wissenschaftlern viele Feindseligkeiten eingebracht. Szlezák stellt ihren Forschungen nun ein Gütesiegel aus.

In Szlezáks Biographie nimmt die „Ideenlehre“ eine herausragende Stellung ein, wohl das Herzstück im Werk des Sokrates-Schülers. Von einer Doktrin im engeren Sinn wird man aber kaum sprechen können, da die entsprechenden Andeutungen eher verstreut als systematisch erfolgen. Daneben genießt die „Politeia“ einen hohen Rang bis in die Gegenwart. Die Ermordung des gerechtesten Bürgers der Athener Polis regte bis heute zu einem Nachdenken über Gerechtigkeit an.

Ein großer Vorzug der Studie ist es, daß sie das vielschichtige Denken Platons kompakt zusammenfaßt; weiter stellt sie die Brennpunkte der Platon-Forschung heraus. Letztere sind naturgemäß eher für Kenner der Thematik interessant. Szlezák setzt die Reihe wichtiger neuerer Platon-Darstellungen im deutschsprachigen Raum fort. Summarisch anzuführen sind die Namen Franz von Kutschera, Harald Seubert und Vittorio Hösle.

Thomas Alexander Szlezák: Platon. Meisterdenker der Antike. Verlag C.H. Beck, München 2021, gebunden, 777 Seiten, 38 Euro