© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/21 / 04. Juni 2021

Artensterben, Klimawandel und Pandemien
Josef Settele warnt eindringlich vor einer „Triple-Krise“ und erläutert, warum wir dringend handeln müssen
Dieter Menke

Das Porträt, das der Verlag dem Buch über die von Artensterben, Klimawandel und Pandemien verursachte „Triple-Krise“ beigefügt hat, zeigt einen jovialen 59jährigen mit offenem Hemd, Lederweste und Schnauzbart, dessen Habitus locker mit dem eines bodenständigen Handwerkers oder Landwirts aus der Allgäuer Heimat des Autor verwechselt werden könnte. Jedenfalls fällt es auf den ersten Blick schwer, in Josef Settele den deutschen „Top-Ökologen“ zu erkennen.

Denn der seit 2020 im Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundesregierung sitzende Agrarwissenschaftler ist nicht nur Professor für Ökologie an der Universität Halle-Wittenberg und Naturschutzforscher am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung. 2019 koordinierte der Insektenkundler den Bericht des Weltbiodiversitätsrats (IPBES), der nicht weniger als das „sechste große Artensterben“ in der Erdgeschichte dokumentiert: „Die globale Rate des Artensterbens ist mindestens um den Faktor zehn bis hundertmal höher als im Durchschnitt der vergangenen zehn Millionen Jahre, und sie wächst“.

Mit solchen Hiobsbotschaften geht es weiter im ersten Kapitel „Ein Planet wird ausgenommen“, das Herbert Gruhls Öko-Klassiker „Ein Planet wird geplündert“ (1975) fortschreibt. Kurz nach Gruhls konservativer Aufforderung zur Umkehr, so lautet Setteles bittere Bilanz in seinem Buch „Triple-Krise: Artensterben, Klimawandel, Pandemien“, hätten die schlimmsten Zerstörungsprozesse an ungeheurer Dynamik gewonnen. Völlig unbeeinflußt von der Serie an internationalen Konferenzen und Abkommen, die 1992 mit dem UN-„Erdgipfel“ in Rio de Janeiro einsetzten, wurden zwischen 1980 und 2015 132 Millionen Hektar Wald abgeholzt – Tendenz steigend. Im gleichen Zeitraum erlitten drei Viertel der Naturräume auf den fünf Kontinenten signifikante Beeinträchtigungen bis hin zu ihrer kompletten Vernichtung.

Etwa 85 Prozent der Feuchtgebiete sind seitdem von negativen Eingriffen betroffen. Knapp ein Viertel der Landfläche der Erde ist ökologisch am Ende und kann nicht mehr genutzt werden. Zwei Drittel der Ozeane, in die sich jährlich zehn Millionen Tonnen Müll ergießen, sind wegen massiver Eingriffe des Menschen nicht mehr intakt – auch hier: Tendenz steigend.

„Wir wissen nicht, wie sich das Klima entwickelt

Allein in Frankreich sank die Zahl der Feld- und Wiesenvögel seit 1990 um 38 Prozent, während britische Forscher melden, daß heute 400 Millionen weniger Vögel im Vereinigten Königreich leben als 1990. In Deutschland hätten sich zwar See- und Fischadler, Uhus, Wanderfalken und Wiedehopf, die vor 40 Jahren am Rande der Ausrottung standen, „ordentlich erholt“, dafür „krachen andere Vogelpopulationen zusammen“. Arten, die im Wald oder in siedlungsnahen Gebieten vorkommen, nahmen seit 1970 um ein Drittel ab, ein Feld- und Wiesenbrüter wie der Kiebitz büßte seitdem sogar 88 Prozent seines einstigen Bestands ein.

Der Insektenschwund von historisch singulärem Ausmaß „ist eine Tatsache“. Stoppen wir nicht endlich das Tempo des Verlustes, fliegen und krabbeln in 75 Jahren nur noch halb so viele Insekten wie heute. Was, wie Settele mit einem ausführlichen Hinweis auf die durch enthemmten Pestizideinsatz unter schweren Druck geratenen Bestäuber-Arten wie Wildbienen erläutert, für die Nahrungssicherheit der Menschheit schmerzlichste Konsequenzen hätte.

Dem Autor ist es mitunter selbst peinlich, seine Leser mit solch ermüdenden Zahlen zu quälen, die zum Allgemeinwissen jedes gut informierten Zeitgenossen gehören. Unterm Strich geht die präzise, statistisch reichlich untermauerte Diagnose des kranken Patienten Erde daher zu Lasten einer detaillierten Ursachenanalyse und überzeugender Therapievorschläge. Aussterbeprozesse würden nicht unmittelbar nach konkreten Veränderungen der Lebensbedingungen beginnen. Sicher sei nur, „daß der Klimawandel ein verschärfender Treiber ist“.

Auch für die globale Wanderschaft tropischer Arten Richtung Norden sei der Klimawandel nicht die „Hauptursache“, trage aber „maßgeblich“ dazu bei. Daraus dürften aber keine „Horrorszenarien“ zum Klimawandel abgeleitet werden, da Modellrechnungen, die ein komplettes Jahrhundert vorhersagen wollen, „schwierig bis unmöglich“ seien: „Wir wissen nicht, wie sich das Klima entwickelt, wann, wie schnell, und in welchem Umfang der Mensch die Erd­erwärmung stoppen kann – vom Ob gar nicht zu reden.“

Bei allem Verständnis für die „Fridays for Future“-Jugend müsse man als Wissenschaftler doch nüchtern feststellen, die von ihnen propagierte ökologische Apokalypse stehe nicht unmittelbar bevor. Ihre Untergangsszenarien wirkten sich sogar umweltpolitisch „kontraproduktiv“ aus, wenn sie dazu führen, nur Symptome wie die im Industriezeitalter gestiegen CO2-Belastung der Erdatmosphäre kurieren zu wollen. In Übereinstimmung mit einer Phalanx von Globalisierungskritikern zeigt Settele stattdessen auf das „Paradigma des maximalen Gewinns“, dem das globale Finanz-, Wirtschafts- und Handelssystem fast um jeden Preis folge.

Die Umweltzerstörung würde als „akzeptabler Kollateralschaden“ in Kauf genommen. Wie hier Abhilfe zu schaffen wäre, verrät Settele hingegen nicht. Er begnügt sich mit dem Vorschlag, „unsere Wirtschaftsysteme zu hinterfragen, weg von der rein ökonomischen Ausrichtung zu Werten, die jedem wichtig sind“. Das ist genauso nichtssagend wie sein aus der deutschen Öko-Debatte eliminierter, insoweit lobenswerter, aber viel zu allgemeiner Verweis auf den Zusammenhang von Klimawandel und der Bevölkerungsexplosion im globalen Süden.

Die Corona-Pandemie war noch längst nicht alles

Wenn auch vieles, was Setteles in diesem Buch über Artensterben und Klimawandel beschreibt, nicht neu ist, aber oft von weniger seriösen Autoren vermarktet wird, kann der Hallenser Ökologie doch für sich eine Pionierrolle beim Thema Pandemien reklamieren. Bereits 2010 habe er mit einem Dutzend Kollegen nachgewiesen, wie Naturzerstörungen Epidemien auslösen. Das damals entworfene Worst-Case-Szenario einer Pandemie sei der leidvollen Realität, die jetzt ein Virus diktiere, das in einer bis 2019 unbeachteten Fledermausart in Südostasien zirkulierte, recht nahe gekommen.

Ungeachtet solcher Forschungserfahrungen sei er zwar kein Spezialist auf dem Gebiet der Zoonosen. Aber sein Wissen genüge, um vorherzusagen: „Das war noch nicht alles.“ Gegen das, was auf den Menschen im Dschungel warte, sollten seine landwirtschaftlichen Nutzflächen und Siedlungen weiter dorthin wachsen, dürfte das Coronavirus von 2019 „harmlos“ gewesen sein.

Informationen über Josef Settele:

 publons.com

 www.ufz.de

Josef Settele: Die Triple-Krise. Artensterben, Klimawandel, Pandemien. Edel Books, Hamburg 2020, gebunden, 319 Seiten, 22,95 Euro