© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/21 / 04. Juni 2021

Frühlingserwachen auf der Balkanroute
Wieder mehr Migranten über Westbalkan: Die Grenzschutzagentur Frontex meldet für dieses Jahr bereits 11.600 illegale Grenzübertritte
Hans-Jürgen Georgi

Die Warnungen vor einer stark anwachsenden Zahl neu ankommender Flüchtlinge auf dem Westbalkan sind unüberhörbar. Es zeichne sich eine wachsende Migrationszahl, „insbesondere auf der Balkanroute“ ab, sagte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) Anfang Mai. 

Noch kann von einer stark anwachsenden Zahl nicht die Rede sein, doch die europäische Grenzschutzagentur Frontex meldete in den ersten vier Monaten dieses Jahres bereits 11.600 illegale Grenzübertritte. Das seien fast doppelt so viele wie im Vorjahreszeitraum. Bei der Frage, ob das Jahr 2020 insgesamt einen Rückgang der Migration über den Westbalkan gebracht hat, gehen die Einschätzungen auseinander. Der „Dienst für Ausländerangelegenheiten“ in Bosnien-Herzegowina registrierte im vergangenen Jahr etwa 16.000 Migranten, das seien 44 Prozent weniger als im Vorjahr. Demgegenüber stellt eine Studie der Organisation Global Initiative Against Transnational Organized Crime fest: „Die Covid-19-Pandemie hat den Strom nicht vermindert. Im Gegenteil, die Zahl der Asylsuchenden und Migranten auf dem Westbalkan ist 2020 angewachsen.“ Sie befaßt sich auch eingehend mit Menschenschmuggel auf dem Westbalkan und zeigt nicht nur den mühevollen Weg der Migranten nach Westeuropa, sondern auch wieviel Geld dahintersteckt. So kann die Überquerung des Flusses Drina von Serbien nach Bosnien-Herzegowina etwa 500 Euro pro Person kosten. Zu einem „Paketpreis“ zwischen 3.000 und 5.000 Euro lassen sich Entfernung und Grenzen von der Türkei aus über Bosnien-Herzegowina in die EU einfacher als zu Fuß überwinden. 

Schleuser machen Umsatz in Millionenhöhe

Insgesamt wird der „Umsatz“ dieses illegalen Markts auf rund 50 Millionen Euro geschätzt. Weitgehend offen läßt die Untersuchung, woher dieses Geld stammt. In einem Interview des bosnischen Senders Radiosarajevo.ba erzählte ein Marokkaner, daß er Geld von den Eltern bekommen oder irgendwo „gefunden“ und ihm eine Organisation daraufhin eine Unterkunft in Sarajevo angeboten habe. Seit dem sechsmonatigen Aufenthalt in Bosnien-Herzegowina kosteten ihn seine Versuche, nach Westeuropa zu gelangen, laut eigenen Aussagen bereits mehr als 6.000 Euro. Nach elf mißlungenen Grenzübertritten wolle er nun aber aufgeben. 

Am Schmuggel von Migranten beteiligen sich oft Einheimische: Ortskundige führen die Flüchtlinge über die grüne Grenze. Dort warten mitunter Fahrzeuge, die sie nach Slowenien bringen, um am Ende nach Italien, Österreich oder vor allem Deutschland zu gelangen. Slowenien muß seinen Grenzschutz mit Polizisten aus Estland, Litauen oder Polen und demnächst auch aus Deutschland verstärken. Die überwiegend linke Opposition im slowenischen Parlament hatte den Einsatz des heimischen Militärs an den Grenzen verhindert. 

In den Medien des Westbalkans erscheinen fast täglich Meldungen über den Schmuggel von Migranten. Jüngst wurden sogar zwei bosnische Grenzpolizisten verhaftet, weil sie verdächtigt werden, ihr Amt mißbraucht und einen ungestörten Grenzübertritt zwischen Montenegro und ihrem Heimatland abgesichert zu haben. Besonders angesichts des einsetzenden Sommers und der Entspannung in der Corona-Krise ist in jedem Fall mit einem höheren Migrantenaufkommen zu rechnen.