© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/21 / 16. April 2021

Statistische Überraschungen
Trotz der vielen Covid-19-Opfer ist die Sterberate insgesamt normal / Wie tödlich ist Corona wirklich?
Ulrich van Suntum

Die täglichen Corona-Nachrichten lassen erschauern: Knapp werdende Intensivbetten, steigende Inzidenzwerte, zeitweise über 1.000 Todesfälle pro Tag im Zusammenhang mit Covid-19 – das muß sich doch in den Sterbestatistiken niederschlagen? Sieht man sich aber die vorliegenden Zahlen an, erlebt man einige Überraschungen. Die Sonderauswertung des Statistischen Bundesamtes dazu reicht aktuell bis zur 11. Kalenderwoche, also bis zum 21. März des laufenden Jahres. Darin finden sich die Sterbefälle getrennt nach Altersklassen – auch für die zurückliegenden Jahre ab 2016.

Auf dieser Basis läßt sich die sogenannte Übersterblichkeit berechnen, das ist die Zahl der Verstorbenen, die über den eigentlich zu erwartenden Wert hinausgeht. Letzterer hängt neben der Bevölkerungszahl und ihrer Altersstruktur auch stark von der Jahreszeit ab. So sterben im Winter mehr Menschen als im Sommer, außer wenn es etwa zu einer Hitzewelle kommt. Man muß darum das Zeitprofil der Sterbefälle mit dem entsprechenden Zeitprofil eines geeigneten Vergleichszeitraumes vergleichen, wenn man echte Übersterblichkeit von bloßen Saisonbewegungen unterscheiden will.

Die Wiesbadener Statistiker wählen als Vergleichszeitraum den Durchschnitt der Vorjahre. Das hat den Vorteil, daß zufällige Schwankungen in einzelnen Jahren geglättet werden. Anschaulicher ist es aber, ein einzelnes Basisjahr zu wählen, weil die Zahlen so leichter interpretierbar sind. Dafür bietet sich vor allem das Jahr 2016 an, da es damals weder eine Grippewelle noch andere Sondereinflüsse gab, die den Vergleich verzerren könnten. Um auch die aktuellsten Werte von 2021 mit einbeziehen zu können, kann man diesen Basiszeitraum um die ersten elf Wochen von 2017 erweitern. Dabei muß dann allerdings noch die Veränderung der Bevölkerungszahl und ihrer Altersstruktur berücksichtigt werden.

Insgesamt sind zwischen Januar 2020 und März 2021 knapp 93.000 mehr Menschen gestorben als im gleichen Zeitraum fünf Jahre zuvor. Das entspricht einer Zunahme der Sterbefälle um acht Prozent, obwohl die Bevölkerung nur um knapp ein Prozent gewachsen ist. Dabei ist aber zu beachten, daß es 2020 etwa 20 Prozent mehr über 80jährige gab als 2016, was schon alleine eine entsprechend höhere Sterberate erwarten läßt.

Sterblichkeit der Älteren in der zweiten Corona-Welle

Mit Corona hat die höhere Gesamtsterblichkeit also nichts zu tun, im Gegenteil: Die Sterbezahl der über 80jährigen lag aktuell nur um 16 Prozent höher als im Vergleichszeitraum. Das ist weniger, als zu erwarten gewesen wäre. Bei den unter 80jährigen ist sie gegenüber 2016/17 sogar leicht zurückgegangen. Wie kann das sein, wo doch die Gesamtzahl der Covid-19-Toten in der zweiten Aprilwoche mit über 78.000 angegeben wird? Einen Teil der Antwort gibt die grafische Darstellung der Unterschiede in den Sterbezahlen der beiden Zeiträume: Bei den über 80jährigen (rote Linie) erkennt man deutlich die beiden Pandemiewellen im Frühjahr und um die Weihnachtszeit 2020 sowie auch den Einfluß der sommerlichen Hitzeperiode, die ebenfalls viele Opfer gefordert hat. Die Sterblichkeit der Älteren lag vor allem in der zweiten Corona-Welle tatsächlich viel höher, als es ihrem Zuwachs von 20 Prozent entsprochen hätte.

In den Zwischenzeiten sowie vor allem zu Jahresbeginn 2021 war sie dafür aber teils deutlich geringer. Zudem hat Corona sich bei den unter 80jährigen nur in der zweiten Welle spürbar ausgewirkt, wobei aber die Übersterblichkeit mit sieben Prozent in der Spitze vergleichsweise gering blieb. Insgesamt ist damit im Zeitverlauf ein Corona-Effekt klar erkennbar. Dennoch sind seit Beginn der Pandemie bisher weniger Menschen gestorben, als man schon allein aufgrund der alternden Bevölkerung hätte vermuten können.

Woran liegt das? Eine mögliche Ursache könnte das „Präventionsparadoxon“ sein: Hygienemaßnahmen wie Masken und Abstandhalten haben neben Corona auch andere Infektionen verhindert. So ist laut Robert-Koch-Institut die Rate an akuten Atemwegskrankheiten seit Anfang März 2020 in Deutschland ungewöhnlich stark gesunken. Zudem sind auch die tödlichen Verkehrsunfälle wegen der Lockdowns 2020 noch einmal um gut zehn Prozent zurückgegangen. Sie fallen allerdings mit zuletzt nur noch 2.724 Verkehrstoten pro Jahr in der Sterbestatistik kaum ins Gewicht. 1990 waren es noch über 11.000 gewesen.

Hohe Covid-19-Gefahr trotz fehlender Übersterblichkeit

Plausibel erscheint auch folgende Überlegung: Viele der Hochbetagten, die ja besonders stark Corona erlegen sind, wären vermutlich ohnehin noch im gleichen Jahr gestorben. Insoweit wäre dann Sars-CoV-2 anderen Krankheiten wie Krebs, Herz-/Kreislauf-Leiden, Noroviren oder anderen Lungenkrankheiten nur zuvorgekommen. Das könnte erklären, warum sich die Sterberate selbst der Älteren trotz der vielen Corona-Opfer nicht entsprechend stark erhöht hat. Die allgemein steigende Lebenserwartung und die bessere medizinische Versorgung kommen als mögliche Ausgleichsfaktoren noch hinzu.

Kaum zu halten ist jedenfalls die Behauptung, die fehlende Übersterblichkeit im Jahresdurchschnitt beweise die Ungefährlichkeit von Covid-19. Das Zeitprofil der Sterbefälle spricht eine sehr deutliche Sprache, ganz abgesehen von der beträchtlichen Übersterblichkeit, welche in anderen Ländern in der Pandemie zu beobachten war und ist. Ob allerdings die insgesamt doch recht unauffällige Sterbestatistik die massiven Beschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens rechtfertigen kann, ist eine ganz andere Frage. Auch inwieweit sie die Mortalität überhaupt beeinflußt haben, kann aus der Sterbestatistik allein nicht herausgelesen werden.






Prof. Dr. Ulrich van Suntum lehrte von 1995 bis 2020 VWL an der Universität Münster.