© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/21 / 16. April 2021

Auf der Lauer
Zivilisationskritik: Sylvain Tessons „Der Schneeleopard“ ist der literarische Spitzentitel des Frühjahrs
Thorsten Thaler

Von einer anderen Welt als dieser zu fabeln hat gar keinen Sinn“, scheibt Friedrich Nietzsche in seinem 1889 erschienenen Spätwerk „Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert“. Hundertdreißig Jahre danach macht sich Sylvain Tesson, ein französischer Reiseschriftsteller, diesen Gedanken zu eigen, als er bei Temperaturen um minus 30 Grad regungslos in einer Felsgrotte in der Hochebene Tibets hockt und sich der Kunst des Nichthandelns unterwirft. Tesson wartet einfach nur, stundenlang, der Atem dampft, jede Bewegung jagt ihm einen kalten Luftzug über den Rücken. Er ist auf der Lauer nach einer „der Formen des Einzigartigen“. Tesson wartet auf das Erscheinen eines Schneeleoparden.

Innige Verbundenheit mit der Natur

Über dieses Erlebnis während einer Reise mit dem Fotografen Vincent Munier und zwei weiteren Begleitern in die tibetische Hochebene hat er 2019 ein in Frankreich preisgekröntes Buch geschrieben, das dort auf den Bestsellerlisten landete und kürzlich auch auf deutsch erschienen ist. Die linksliberale Zeitung Libération schwärmte von einer „Ode an die Stille“, das katholische Wochenblatt La Vie urteilte, Tessons Werk sei „das perfekte Gegenmittel gegen die zeitgenössische Raserei“. In Deutschland hat es hingegen, von einem Beitrag im Deutschlandfunk abgesehen, bislang kaum eine nennenswerte Resonanz erfahren. Dabei darf „Der Schneeleopard“ mit Fug und Recht als literarischer Spitzentitel dieses Frühjahres gelten.

Der Forschungsreisende Alexander von Humboldt schrieb am 3. Januar 1810 an Goethe, die Natur müsse „gefühlt werden“. Wer sie nur sieht und abstrahiert, werde sie zu beschreiben glauben, „ihr aber selbst ewig fremd sein“. Auf Sylvain Tesson trifft dieses Verdikt sicher nicht zu. Er versteht sich selbst als „Waldgänger“, wie er dem Deutschlandfunk sagte. Seine poetische Sprachmächtigkeit läßt den dafür empfindsamen Leser die Natur selbst ohne eigene Anschauung – wer kann schon nach Tibet reisen und Schneeleoparden beobachten? – nicht nur nachfühlen, jede Zeile in seiner Beschreibung atmet den Geist der innigen Verbundenheit mit der Natur. So schreibt er über seinen Unterschlupf: „In den Grotten vernahm ich das magische Echo einer jahrtausendealten Aura.“

Einst, notiert Tesson, seien diese Höhlen von Menschen bewohnt gewesen, bis der „Wind der neolithischen Revolution“ sie zerstreute, sie den Schlamm fruchtbar machten und die Tierherden domestizierten, einen einzigen Gott erfanden und „mit der unkontrollierten Aufteilung der Erde“ begannnen, um zehntausende Jahre später „endlich die Erfüllung der Zivilisation zu finden: Verkehrsstaus und Fettleibigkeit“. 

Und an anderer Stelle schreibt er mit Blick auf die Tiere: „Die Welt war ein Schmuckkästchen. Juwelen gab es kaum noch, der Mensch hatte sich den Schatz unter den Nagel gerissen.“ Einen der letzen Schneeleoparden – von der Großkatze leben nur nur ein paar tausend in freier Widbahn, sie gehört zu den vom Aussterben bedrohten Tierarten – zu sichten, bedeutete, „eine verschwundene Ordnung zu erblicken: den alten Pakt zwischen Tieren und Menschen“.

Exerzitien der Einsamkeit und Stille

Daß dieser Bund vom Homo sapiens in seiner Hybris, sich die Welt immer weiter untertan zu machen, aufgekündigt wurde, belegen nicht zuletzt Zahlen der International Union for Conservation of Nature (IUCN). Danach ist von den über 72.000 bekannten Wirbeltierarten aktuell jede achte vom Aussterben bedroht. Wie aus der von der Weltnaturschutzunion geführten Roten Liste gefährdeter Arten hervorgeht (Stand 2020), sind es bei den Säugetieren 19 Prozent. Wie dichtete einst Christian Morgenstern? „Weh dem Menschen, wenn nur ein einziges Tier im Weltgericht sitzt.“

Sylvain Tesson adaptiert einen Satz des Schriftstellers und Kollaborateurs Pierre Drieu la Rochelle und münzt ihn auf sich um: „Es gibt außerhalb von mir etwas, das nicht ich bin (…), und das sehr viel kostbarer ist, ein Schatz jenseits des Menschlichen.“ Dementsprechend beschreibt Tesson seine erste Begegnung mit dem Schneeleoparden in einer Schlucht als spirituelle Erfahrung. „Er lag im Gestrüpp verborgen, vor einem schon dunklen Felsvorsprung (…) Man hätte einen Steinwurf entfernt vorbeigehen können, ohne ihn zu sehen. Es war eine religiöse Erscheinung. Noch heute umgibt die Erinnerung an diesen Anblick etwas Heiliges.“ Er glaubte den Leoparden in der Landschaft getarnt, doch es sei die Landschaft gewesen, die bei seinem Erscheinen verschwand. „Er war da, und die Welt erlosch.“

In den vielen Tagen, die Tesson auf der Lauer liegt, findet er zunehmend zu sich selbst. Er reflektiert die Schönheit der Schöpfungsordnung, zitiert Aristoteles, Novalis, Jules Renards „Naturgeschichten“, Martin Heidegger und Ernst Jünger. Die Lauer entwickelt sich für ihn zu einer Übung in Ausdauer und Beharrlichkeit wider die moderne Raserei, gegen alles Flüchtige, Unstete und Nichtige. Exerzitien der Einsamkeit und Stille, abseits des Jahrmarkts der Eitelkeiten, dem Lärm der Zeit mit Politiker-Tweets, Influencer-Postings und Shitstorms. Die geschenkte Zeit schärft seine Aufmerksamkeit für Wesentliches und  Bewahrenswertes. Die Lauer lehrt Demut. „Die Geduld war die Verneigung des Menschen vor dem Gegebenen.“

Auf ihrem Rückweg landen die Reisegefährten in einer chinesischen Provinzhauptstadt, folgen dort dem Flug einer Schleiereule in einen Park, in dem ein Rummel stattfindet. Leuchttafeln verkünden Parteipropaganda, Lichterketten flackern, Karussells wirbeln umher, Lautsprecher wummern. Die Gruppe ist genervt. Sie entfliehen dem für sie unerträglichen Getöse. „Wo war in einer Laserwelt noch Platz für Eulen?“ fragt sich Sylvain Tesson. Ach ja, „was zählten schon die Tiere, wenn man nur seinen Spaß hatte?“

Die Antwort liegt offensichtlich auf der Hand: Sie zählen nichts.

Sylvain Tesson: Der Schneeleopard. Rowohlt, Hamburg 2021, gebunden, 192 Seiten, 20 Euro