© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/21 / 02. April 2021

Das hätte kein Jurist für möglich gehalten
Heribert Prantl, langjähriger Politikchef der „Süddeutschen Zeitung“ hat ein überraschend kritisches Buch über „Grundrechte in Quarantäne“ vorgelegt
Ulrich Vosgerau

Wenn ein Buch, dessen Titel eine auch rechtswissenschaftliche Untersuchung erwarten läßt, beim Verlag C.H. Beck erschienen ist, erwartet man, und sei es auch in aller Kürze, etwas wissenschaftlich Gediegenes. Nimmt man Heribert Prantls neues Büchlein aber zur Hand – es ist durchaus flott lesbar –, hat man schnell den Eindruck, es handele sich um die Art Buch, die ein geübter Journalist, der schnelles Schreiben über aktuelle Themen mit etwas Namedropping aus dem Gedächtnis, aber ohne Fuß- oder Endnoten, ohnehin gewohnt ist, an einem verlängerten Wochenende geschrieben hat – Frank Schirrmacher war ja zuletzt dafür bekannt. 

Es zeigt sich dann, daß dem nicht so ist, aber es handelt sich im wesentlichen um den Neuabdruck von Meinungsartikeln in der Süddeutschen Zeitung, wo  Prantl bis 2019 Mitglied der Chefredaktion war, sowie aus dem Blog des Verfassers („Prantls Blick“). Dem sind zwei kurze Einleitungskapitel vorangestellt, deren erstes durchaus pointiert in den weitgehenden Grundrechtsverlust in der Corona-Ära einführt, der nur wenige prinzipiell zu stören scheint, und deren zweites dann schnell auf auch nicht-coronabedingte Probleme am Lebensende und das Lebensrecht umschwenkt und in einigen eindrucksvollen, jedoch außer Zusammenhang zum eigentlichen Thema stehenden Passagen an die verstorbene Mutter des Verfassers erinnert.

Prantl gehört heute zu den pointiertesten und meistgehörten Kritikern der weitgehenden Grundrechtsabschaltung durch Rechtsverordnungen aufgrund eines einfachen Bundesgesetzes infolge von Beschlüssen einer verfassungsrechtlich nicht vorgesehenen Exekutivrunde. Daß dies auch nur theoretisch möglich sein könnte, hätte noch im Januar 2020 kein einziger Jurist geglaubt. Aber dies gilt ja auch für den Beginn der europäischen Schuldenvergemeinschaftung, dem Plan der Abschaltung aller grundlastfähigen Kraftwerke, der Grenzöffnung oder jetzt der Abwicklung der deutschen Autoindustrie. Gegen diese Dinge hat sich Prantls Kritik (noch?) nicht gerichtet; aber nun leidet er merklich daran, für den Hinweis auf die erkennbare Verfassungswidrigkeit vieler Corona-Maßnahmen böse Briefe zu bekommen oder gar in die Nähe von „Rechten“ oder Wissenschaftsleugnern gestellt zu werden. 

Der Neuabdruck von selbständigen Meinungsartikeln seit März 2020 unter dem gemeinsamen Rubrum „Corona“ führt nicht nur zu Wiederholungen – immer wieder wird einleitend aufgezählt, was jetzt alles geschlossen ist – sondern auch zu zusammenhanglos wirkenden Exkursen, etwa über Bonhoeffer oder – intellektueller Tiefpunkt des Buches! – über die vermeintliche Notwendigkeit, den klaren Tatbestand „Rasse“ als Diskriminierungsverbot aus dem Grundgesetz zu streichen. In seiner Herleitung dessen beweist der sonst gelegentlich luzide Autor eine weitgehende Unfähigkeit, über einen Sachverhalt in historisch wie ethnologisch kundiger Weise und in aller Ruhe rational, also im Sinne der Unterscheidung zwischen Tatsachen und Wertungen bei Diskussionsfähigkeit der Wertungen, einmal nachzudenken. Die Wahrnehmung der vermeintlichen eigenen moralischen Überlegenheit über Andersdenkende (oder auch nur besser Informierte) wird, sich immer weiter steigernd, als Moralsuada präsentiert. 

Und mit diesen zwar fast unwürdigen Passagen hat der Verfasser, fast tragischerweise, ja eigentlich den Schlüssel zu seinen eigenen Ausgangsfragen in der Hand und merkt es nicht: Diejenigen seiner Leser, die ihm derzeit wutentbrannt schreiben, er solle doch endlich von seinen Grundrechten aufhören, solange noch Menschen an Corona stürben, denken ganz einfach über Fragen der Volksgesundheit in ähnlich exaltierter und erkenntnislos sich um die eigene Achse drehender Form nach, wie Prantl selbst eben über das Problem der Rasse.

Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu Dir: ein religiöser Zug, oder jedenfalls eine religiöse Sehnsucht durchzieht das Buch, das man von dem linksliberalen Meinungsführer bislang nicht kannte. Dadurch mag es, wenn auch ungewollt, zeitdiagnostische Kraft entfalten. Denn die derzeitige Krise unseres Landes besteht nur zur einen Hälfte im Verlust früher ubiquitärer Bildungsgüter und des Denkvermögens überhaupt, zur anderen Hälfte im Neuerwachen kindlich-religiöser Sehnsüchte, die zumeist – anders aber hier bei Prantl – gar nicht mehr als solche erkannt werden. Auch deshalb machen eigentlich fast alle alles mit.

Heribert Prantl: Not und Gebot.Grundrechte in Quarantäne. Verlag C.H. Beck, München 2021, gebunden, 200 Seiten, 12,99 Euro