© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/21 / 02. April 2021

Eine Reichsregierung war nicht vorgesehen
Der in Cambridge lehrende Historiker Oliver Haardt hat eine bemerkenswerte verfassungsrechtliche Analyse des Deutschen Kaiserreiches vorgelegt
Dag Krienen

Das Deutsche Kaiserreich von 1870/71 wurde staatsrechtlich durch den in separaten Verträgen geregelten Anschluß der süddeutschen Staaten Bayern, Württemberg, Baden und Hessen-Darmstadt an den schon existierenden Norddeutschen Bund von 1867 geschaffen. Das neue, ursprünglich noch als Deutscher Bund betitelte Gebilde stellte gemäß seinen Gründungsurkunden nur einen „ewigen“ Bund der deutschen Fürsten (und der freien Städte Hamburg, Bremen und Lübeck) dar. Sein Vorsitzender, der König von Preußen, erhielt als Primus inter pares den Ehrennamen „Deutscher Kaiser“, aber keinerlei territoriale Hoheitsrechte. Ihm unterstand ein als Reichskanzler bezeichneter Beamter zur Erledigung der dem Bund obliegenden Aufgaben. Eine Reichsregierung hingegen existierte nicht. Das eigentliche exekutive und legislative Entscheidungsorgan des Reiches war der von den „verbündeten Regierungen“ (der Mitgliedstaaten) beschickte Bundesrat, der allein das Recht zur Vorlage neuer und Änderung bestehender Gesetzte besaß. Ohne Zustimmung des nach direktem, gleichem und geheimem Männerwahlrecht gewählten Reichstages konnten diese, einschließlich des Etats des Reiches, nicht in Kraft treten. Soweit die Theorie.

Oliver Haardt beschreibt in seinem – wie es sich für einen deutschen Historiker gehört – ausgesprochen ausführlichen, dennoch – wie es sich für einen im englischen Cambridge lehrenden Historiker gehört – gut lesbaren Werk die Verwandlung dieses als ein bloßer Fürstenbund konzipierten Staatenbundes in eine echte Reichsmonarchie, einen modernen, voll integrierten einheitlichen Staat mit monarchischer Spitze und föderalen Elementen. Es handelt sich um eine „Verfassungsgeschichte“ des Reiches im weitesten Sinne. Haardt betrachtet nicht nur die Entwicklung der schriftlichen Regeln, sondern die der Verfassungswirklichkeit, das heißt die Art und Weise, wie in diesem Gebilde rechtliche und politische Entscheidungen tatsächlich zustande kamen. 

In drei jeweils rund 300 Seiten umfassenden Abschnitten widmet er sich dabei zunächst der Reichsgründungsphase 1866 bis 1871, dann der Art und Weise, wie der Fürstenbund in eine Reichsmonarchie verwandelt wurde, um abschließend der Frage nachzugehen, wieweit dadurch die innere Ruhelosigkeit des Reiches verursacht wurde. 

Daß der „Fürstenbund“ von Anfang an eine Fiktion war, belegt Haardt bei der Schilderung des Zustandekommens der Reichsverfassung. Diese stellte einen inhaltlich inkohärenten Kompromiß dar, um alle 1870 relevanten politischen Kräfte, Preußen, die sonstigen deutschen Staaten und Regierungen sowie das deutsche Volk, unter einen Hut zu bringen. Die Einrichtung eines Reichstages mit fortschrittlichem Wahlrecht diente als Gegengewicht gegen alle zentrifugalen Kräfte; der Bundesrat als zentrales Exekutiv- und Legislativorgan sollte hingegen sowohl den Kaiser als auch die verbündeten Regierungen vor den Gefahren einer „Parlamentarisierung“ schützen. Preußens Stellung als der eigentlichen Hegemonialmacht des Reiches wurde durch dessen Einfluß im Bundesrat gesichert. Das Reich stellte so ein politisches Gebilde sui generis dar, das allen herkömmlichen Kategorisierungen der Staatsrechtslehre spottete.

Die Entwicklung zu einer Reichsmonarchie setzte bereits bei der Gründung des Reiches ein. Die sich laufend vermehrenden Aufgaben insbesondere bei der Ausgestaltung des Wirtschafts- und später auch das Sozialrechts, die das Reich zu erfüllen hatte, waren vom Reichskanzler allein nicht zu schultern. Aus dem zur Entlastung gegründeten Reichskanzleramt wurden bald weitere Reichsämter für gesonderte Bereiche ausgegliedert. Faktisch entstand so relativ rasch eine nach Fachkompetenzen gegliederte „Reichsregierung“, die indes offiziell nie so genannt wurde. 

Zugleich dehnte diese Regierung ihren Einfluß im Bundesrat weiter aus, indem dort die preußische Bank immer mehr mit Beamten aus der Reichs- statt der preußischen Verwaltung beschickt wurde. Der Bundesrat entwickelte sich zum Ausführungsorgan der Reichsleitung. Der Reichstag gewann aufgrund des Gesetzgebungsbedarfs immer mehr an Einfluß, wenn auch die „Parlamentarisierung“ ihren krönenden Abschluß, der Bildung einer vom Reichstag gebilligten Reichregierung, erst am Ende des Ersten Weltkriegs fand. Das Reich entwickelte sich zu einem alle relevanten gesellschaftlichen Interessen auf vielfältige Weise integrierenden, modernen Staatswesen, wobei die Integrationsleistungen allerdings meist durch informelle Verhandlungen der Akteure im prälegislativen Raum erfolgte.

Während Michael Stürmer die „Ruhelosigkeit“ des Reiches vor allem in der allzu dynamischen Entwicklung der deutschen Gesellschaft begründet sah, macht Haardt im dritten Abschnitt seines Buches dafür seine spezifische Form von Interessenintegration verantwortlich. Gesetze kamen in von wechselnden politischen Mächtekonstellationen bestimmten politischen Verhandlungen unterschiedlicher Akteure zustande und nicht gemäß feststehender rechtlicher Normen („Macht vor Recht“). Politik und Gesetzgebung des Reiches blieben so unberechenbar, was permanent Unruhe erzeugte. 

Unzutreffend ist Haardts Analyse nicht. Doch das genaue Ausmaß dieser Unruhe und der Einfluß, den sie auf das endgültige Schicksal des Kaiserreichs nahm, bleiben bei ihm im ungewissen. Die Frage, ob das Reich aufgrund seiner spezifischen Verfassungsentwicklung in eine Sackgasse geriet oder vielleicht doch die Flexibilität seines integrativen Systems ihm ohne oder bei einem anderen Ausgang des Ersten Weltkriegs den Weg in eine erfolgreiche Zukunft hätte eröffnen können, beantwortet der Autor nicht wirklich. 

Am Ende bleibt dennoch ein positives Fazit: Haardt hat tatsächlich – wie versprochen – eine neue, hochinteressante Geschichte des Kaiserreichs vorgelegt, aber noch lange nicht die endgültige.

Oliver Haardt: Bismarcks ewiger Bund. Eine neue Geschichte des Deutschen Kaiserreichs. Theiss Verlag, Stuttgart 2021, gebunden, 944 Seiten, Abbildungen, 40 Euro