© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/21 / 02. April 2021

Brüssel darf nicht schlafen
Illegale Migration: Italien setzt große Hoffnungen auf Libyens neue Regierung
Curd-Torsten Weick

Italiens Innenministerin Luciana Lamorgese schlägt Alarm. „Wir registrieren eine Zunahme der Migrationsströme, insbesondere aus Libyen“, erklärte die parteilose Politikerin. Vom 1. Januar bis heute sind in Italien 6.068 Migranten in Italien gelandet, im Vergleich zu 2.750 im gleichen Zeitraum des Jahres 2020. Sie habe bereits Kontakt mit ihrem libyschen Amtskollegen, Khaled Mazen, aufgenommen und erwarte, ihn so bald wie möglich zu treffen. Die Daten zeigten die absolute „Dringlichkeit einer konkreten Intervention“ der EU, die den Ergebnissen der kommenden komplexen Verhandlungen über den neuen EU-Pakt über Einwanderung und Asyl vorausgehe, betonte Lamorgese im Interview mit La Repubblica.

Zahl der Migranten hat sich verdoppelt

Parallel dazu hatte bereits der italienische Botschafter in Libyen, Giuseppe Buccino, im Gespräch mit Mazen den Wunsch Roms ausgedrückt, mit dem gestärkten libyschen Innenministerium in der Frage der illegalen Einwanderung und Methoden zur Bekämpfung des Problems zusammenzuarbeiten und Libyen zudem bei der Überwachung zu Lande, zu Wasser und an den Flughäfen zu unterstützen. 

Rom setzt viel Hoffnung in die neu gewählte Regierung der nationalen Einheit. Vergangene Woche hatte Libyens Ostverwaltung, die de facto unter der Kontrolle der Truppen General Khalifa Haftars steht, nach Angaben der türkischen Zeitung Daily Sabah offiziell die Macht an eine neue Exekutive übergeben, die das vom Krieg zerrissene Land vereinen und auf Wahlen Ende des Jahres zusteuern soll.

Unter der Führung von Interimspremierminister Abdul Hamid Dbeibah ersetzt die Regierung der Nationalen Einheit (GNU) sowohl die in Tripolis anssige Regierung der Nationalen Einigung (GNA) als auch ein Parallelkabinett Haftars. Sie steht nicht nur vor der gewaltigen Herausforderung, die Institutionen des Landes zu vereinen, ein Jahrzehnt Bürgerkrieg zu beenden und das Problem der illegalen Migration anzugehen. 

Gerade mit Unterstützung Italiens wurde in den vergangenen Jahren die libysche Küstenwache modernisiert. Nicht ohne Erfolg. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) rettete sie 2020 11.900 Migranten und führte sie zurück nach Libyen. Dieses Jahr waren es bereits 4.200 Illegale. Brennpunkt ist nicht nur die Mittelmeerroute Richtung Italien. Vor allem in der Region der nordwestlichen Stadt Bani Walid, einem Zentrum für Menschenhandel am Rande der Wüste in Richtung Tunesien, etwa 170 Kilometer südöstlich der Hauptstadt Tripolis, und im Gebiet Kufra im Südosten Libyens intensivieren Sicherheitskräfte Schläge gegen Menschenhändler. 

So gelang es Polizeieinheiten der Sicherheitsdirektion von Bani Walid Mitte März, 26 Migranten somalischer Nationalität und etwas später 120 Migranten und Flüchtlinge, die meisten von ihnen Ägypter, aus den Händen der Menschenhändler zu befreien. Alle Personen wurden anschließend der libyschen Behörde zur Bekämpfung illegaler Migration (DCIM) übergeben. Kurz darauf wurden bei einer gemeinsamen Operation von DCIM, der Sicherheitsdirektion und einer Einheit des Grenzschutzbataillons Sabil Al-Salam 47 Migranten sudanesischer Staatsangehörigkeit in Kufra befreit.

Angaben der aktuellen IOM-Studie der Displacement Tracking Matrix (DTM), einem System zur Verfolgung und Überwachung von Vertreibung und Bevölkerungsmobilität zufolge, die rund 590.000 Migranten, die sich in Libyen aufhalten, untersuchte, fand heraus, daß ein Großteil der Migranten und Flüchlinge aus den Nachbarländern kommt: Niger (25 Prozent), Sudan (24 Prozent), Ägypten (20 Prozent) und Tschad (zehn Prozent). 89 Prozent davon sind männlich und nur elf Prozent weiblich. Das Durchschnittsalter der Befragten lag bei 30 Jahren. Die Mehrheit (85 Prozent) war zwischen 21 und 40 Jahren alt. Eine Minderheit war 20 Jahre alt oder jünger (sechs Prozent) oder älter als 40 (neun Prozent) mit nur einem Befragten, der älter als 60 Jahre war.

Flucht in Richtung Sozialsysteme und Arbeit

Die DTM-Daten bestätigen, daß die Mehrheit der Migranten angab, ihr endgültiges Zielland aufgrund seiner attraktiven sozioökonomischen Bedingungen (Bildung, Sozialsystem, soziale Sicherheit, Arbeitsmöglichkeiten usw.) gewählt zu haben. Die Migranten berichten zudem, daß ihre Entscheidung zur Migration vor allem durch „ansprechende wirtschaftliche (77 Prozent) und Lebensbedingungen (73 Prozent) motiviert war.

Von den Migranten, die angaben, so bald wie möglich weiterreisen zu wollen, berichtet mehr als die Hälfte, daß sie von Freunden (59 Prozent) in Libyen über Facebook (67 Prozent) oder WhatsApp-Gruppen (33 Prozent) über attraktive wirtschaftliche Bedingungen informiert wurden. Mehr als ein Viertel wurde von Migrationshelfern hauptsächlich über Facebook (80 Prozent) informiert.

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