© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/21 / 12. Februar 2021

„Mit Journalismus hat das nichts zu tun“
Sind die Medien, speziell unsere Talkshows, tatsächlich politisch „schlagseitig“? Nein, versichern die verantwortlichen Redaktionen. Ja, widerspricht der Kommunikationswissenschaftler Hans Mathias Kepplinger und belegt das mit verschiedenen Studien
Moritz Schwarz

Herr Professor Kepplinger, Ex-ZDF-Moderator Peter Hahne hat jüngst kritisiert, die politischen Talkshows der Öffentlich-Rechtlichen „mutieren zu Regierungs-Hochämtern“. Trifft er den Punkt?

Hans Mathias Kepplinger: Mit seiner Kritik ist er nicht allein. Belege liefern zwei Inhaltsanalysen der Berichterstattung über Migration 2015. Beide zeigen, daß Medientenor und Regierungspolitik auf dem Höhepunkt der Krise fast nahtlos übereinstimmten. Obwohl Angela Merkel zuvor ganz andere Absichten erkennen ließ, mit ihren Entscheidungen aber dann dem Medientenor gefolgt ist.

Wie bewerten Sie diesen Gleichklang von  Medien und Politik?

Kepplinger: Einem Teil der Journalisten fehlt es an kritischer Distanz bei der Berichterstattung über kontroverse Themen. Ein Beispiel sind Sensationsberichte über „vorzeitige Todesfälle“ durch Dieselabgase. Niemand fragte: Was bedeutet dabei „vorzeitig“ – einen Tag, eine Woche, ein Jahr oder mehr? Das macht einen Unterschied für die Betroffenen und hätte auch das Publikum interessiert. Statt kritische Fragen zu stellen, haben die meisten Medien interessengeleitete Horrorvisionen verbreitet und damit Ängste geschürt.

„Horrorvisionen“, gibt es dafür weitere Belege?

Kepplinger: Etwa die Berichterstattung deutscher Medien über die Reaktorkatastrophe bei Fukushima: Während französische und britische Medien sehr intensiv über die verheerenden Folgen des Tsunamis für die Bewohner informierten und Bilder von Schiffen auf Trümmerhaufen, Bergen aus Autowracks und zerstörten Dörfern brachten, veröffentlichten deutsche Medien tagelang vor allem Aufnahmen von Explosionen im Kernkraftwerk. Französische und britische Medien stellten selten eine Beziehung zwischen der Katastrophe in Japan und der heimischen Kernenergie her, hingegen war das in deutschen Medien schon nach drei Tagen ein herausragendes Thema – und das angesichts von fünf bis sieben Toten durch die Nuklear- und mindestens 25.000 Toten und Vermißten durch die Naturkatastrophe. Nachrichtenwerte? Kann man da vergessen!

Wie sieht es beim Thema Corona aus? 

Kepplinger: Aufschlußreich wäre eine Diskussion der Übersterblichkeit durch Corona zwischen einem Kronzeugen der „Querdenker“ wie Sucharit Bhakdi und einem Pathologen, der Auskunft gibt über den Anteil der Patienten, die „an Corona“ beziehungsweise „mit Corona“ gestorben sind, sowie einem Experten des Statistischen Bundesamtes, der die Einzelheiten der Berechnung von Übersterblichkeit kennt. Dies alles geleitet von einem neutralen Moderator, der sich nicht als Verhörspezialist aufführt, sondern fehlende Antworten einfordert und überflüssige Abschweifungen verhindert.

Hahnes Kritik entzündete sich allerdings an der Meldung des Branchendienstes „Meedia“ wonach in den vier großen Polittalkshows der Öffentlich-Rechtlichen im Jahr 2020 Vertreter der Union 96mal, der SPD 83mal, der Grünen 32mal, der FDP 28mal und der Linken 19mal zu Gast waren – der größten Oppositionsfraktion im Bundestag, der AfD, dagegen nur sechsmal. 

Kepplinger: Ähnlich war die Schieflage in den Jahren davor. Und noch klarer wird das, wenn man statt der Parteien die bevorzugten Politiker betrachtet: Da rangierte 2018 Robert Habeck auf Platz eins und Annalena Baerbock gemeinsam mit Peter Altmaier und Christian Lindner auf Platz zwei. Die größte Präsenz besaßen folglich die Vertreter der kleinsten Oppositionspartei im Bundestag. Solche Vergleiche verweisen auf Schieflagen, bleiben aber an der Oberfläche. Dazu ein Beispiel: Systematische Analysen fünf populärer Talkshows von ARD und ZDF – insgesamt acht Ausgaben – während des Höhepunktes der Migrantenkrise 2015 vermitteln einen Eindruck von der Dramaturgie solcher Sendungen. Fünf der acht Ausgaben kündigten Diskussionen über „Flüchtlinge“ an und suggerierten damit eine besondere Schutzbedürftigkeit im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention. Der sachlich richtige, neutrale Begriff „Migranten“ tauchte in keiner Ankündigung auf. Von den 45 Gästen sprachen sich 27 für eine erhebliche Zuwanderung aus, zwölf wandten sich dagegen und sechs waren unentschlossen. Die Moderatoren verhielten sich gegenüber fast allen Befürwortern überwiegend wohlwollend. Sie unterbrachen sie nicht, stellten hilfreiche Nachfragen etc. Dagegen verhielten sie sich gegenüber fast allen Gegnern überwiegend konfrontativ. Sie unterbrachen sie gezielt, hakten insistierend nach etc. Das spiegelte sich dann auch im Verhalten der Gäste: die meisten der Einwanderungsbefürworter vertraten ihre Sichtweise entschieden, die meisten Gegner argumentierten dagegen zögerlich. So kann man Verhaltensweisen und Wahrnehmungen steuern.

Wie kommt es zu solchen Schieflagen? 

Kepplinger: Eine Ursache sind Parteipräferenzen von Journalisten. Bei einer breit fundierten Befragung 2005 bevorzugten 36 Prozent die Grünen, 26 Prozent die SPD und ein Prozent die PDS. Ihnen standen neun beziehungsweise sechs Prozent gegenüber, die den Unionsparteien beziehungsweise der FDP nahestanden. Zwanzig Prozent nannten keine Parteipräferenz. Die meisten von ihnen waren allerdings vermutlich keine Nichtwähler, sondern Antwortverweigerer. Ihre Parteineigungen kennen wir nicht. Hinweise darauf liefern aber Milieustudien. Johannes Raabe hat 1998 die Zugehörigkeit der Journalisten in Bayern zu zehn Milieus ermittelt und mit Daten über die bayerische Bevölkerung verglichen. Letztere wurde also in zehn soziale Milieus eingeteilt. Jedem gehörten etwa 5 bis 15 Prozent der Bevölkerung an. Dagegen lebten 66 Prozent,  also zwei Drittel der Journalisten in nur zwei dieser zehn Milieus – nämlich 43 Prozent im „liberal-intellektuellen“ und 23 Prozent im „postmodernen“ Milieu. Noch einen Schritt näher an das Problem führt eine neuere Journalistenbefragung von Carsten Reinemann und Philip Baugut. Sie zeigt, daß 66 Prozent sich selbst für „links“ halten, fast genauso viele halten ihre Kollegen in der Redaktion für „links“. Dagegen betrachten nur 39 Prozent die Mitarbeiter in anderen Abteilungen als „links“ und sogar nur 13 Prozent die Leser, Hörer oder Zuschauer. Das zeigt: Journalisten sind „angepaßte Außenseiter“ – angepaßt an ihre eigene Umgebung, Außenseiter in bezug zur Gesellschaft. 

Ist das neu?

Kepplinger: Das ist nicht neu, wirkt sich aber heute noch stärker als früher auf die Meinungsbildung aus, weil alle Journalisten dank der Digitalisierung über die Medienhäuser, Redaktionen und Standorte hinaus miteinander vernetzt sind und zeitgleich auf die gleichen Quellen zugreifen können. Das vergrößert bei kontroversen Themen den Einfluß von Meinungsführern und beschleunigt die Meinungsbildung im Journalismus. Durch ihre wechselseitige Bestätigung verdichten sich zuweilen Meinungen zu Wahrheitsansprüchen – an denen sich Bevölkerung und Kollegen messen lassen müssen. Ein groteskes Beispiel sind die Reaktionen auf eine Ausgabe von „Hart aber fair“ im Juni 2019: Nachdem sich Uwe Junge, damals AfD-Vorsitzender in Rheinland-Pfalz, erfolgreich gegen Vorwürfe von Moderator Frank Plasberg behauptet hatte, warfen Kollegen und Zuschauer Plasberg vor, er habe versagt. Schließlich mußten der Intendant, Tom Buhrow, und der Programmdirektor, Jörg Schönenborn, Plasberg vor dem Rundfunkrat des Senders gegen den Vorwurf verteidigen, er habe Junge nicht hinreichend kritisiert: hart, aber fair?

Sind Talkshows nun nicht einfach mal so?

Kepplinger: Nein, sie sind so geworden. Die Talkshows in den siebziger Jahren wie „III nach neun“ waren unterhaltsame Plaudereien von geistreichen Journalisten mit interessanten und amüsanten Gästen. Politik spielte dabei keine große Rolle. Daneben gab es den von Werner Höfer geleiteten „Internationalen Frühschoppen“, kontroverse politische Diskussionen zwischen Journalisten aus mehreren Ländern, sowie die Sendereihe „Zur Person“, lange Interviews des bestens informierten Günter Gaus mit jeweils einem Gast. Man muß daran erinnern, um das Ausmaß der De-Professionalisierung des politischen Journalismus und der Politisierung eines Unterhaltungsgenres zu ermessen. Sie hatte ihren bisherigen Höhepunkt, als Angela Merkel während der Migrantenkrise ihre Politik nicht vor dem Bundestag erläuterte, sondern in einem Solo bei „Anne Will“. 

„De-Professionalisierung“?

Kepplinger: Angehörige von Professionen – Ärzte, Anwälte, Pfarrer etc. – machen aus individuellen Katastrophen Routineangelegenheiten. Viele Reporter und Moderatoren in Hörfunk und Fernsehen dagegen blasen inzwischen Alltagsereignisse zu individuellen und gesellschaftlichen Katastrophen auf. Sie stehen etwa vor dem Weißen Haus und beklagen empört die Politik des US-Präsidenten – erklären aber nichts. Sie berichten im Hörfunk zwischen zwei Musiktiteln über einen Verkehrsunfall oder die Erfolge von Sportlern und überschlagen sich fast in ihrem Entsetzen oder ihrer Begeisterung. Aus distanzierten Beobachtern wurden involvierte Teilnehmer, ihre Anteilnahme zum Ausweis ihrer „Qualifikation“. Das mag man sympathisch finden – mit professionellem Journalismus hat es nichts zu tun.

In einem Interview dieser Zeitung mit SWR-Intendant Kai Gniffke argumentierte dieser, die AfD sei lediglich aus pragmatischen Gründen in den Talkshows unterrepräsentiert, keineswegs aus politischen.

Kepplinger: Das kann ich nicht ernst nehmen. Es geht ja nicht nur um die Talkshows und die AfD, sondern generell um die neutrale Berichterstattung über Personen und Organisationen, die den Mainstream in Frage stellen. Das betrifft ein breites Spektrum von Themen, etwa die Energie-, Verkehrs-, Klima- und Agrarpolitik, um nur einige zu nennen. Wenn die politische Schieflage, die durch die Überrepräsentierung von Parteien und Minderheitenmilieus in den Medien entstanden sind, weiter ignoriert wird, werden sich die Medien noch mehr von ihrem Publikum entfernen. Die Auflagen der Druckmedien und die Reichweiten der Fernsehsender gehen schon seit den siebziger Jahren nahezu kontinuierlich zurück. Wer hier nur auf das Internet blickt, verkennt die tiefer liegenden Ursachen!

Wenn sich die Medien auch weiterhin nicht reformwillig zeigen, müßte dann nicht die Politik eingreifen? 

Kepplinger: Die Politik sollte effektiver sicherstellen, daß die öffentlich-rechtlichen Sender ihren Programmauftrag nicht irgendwie, sondern optimal erfüllen. Das ist alles! Denn sonst wird es noch schlimmer, weil die Parteien versuchen würden, ihre Interessen einzubringen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist viel zu wichtig, um ihn Politikern und Rundfunkmitarbeitern zu überlassen. Wir brauchen eine breite, intensive öffentliche Diskussion über den Programmauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, über seine Leistungen und Fehlleistungen, darunter die Vermehrung der Hörfunk- und Fernsehprogramme, die Verlagerung von Kernaufgaben in Spezialkanäle und die dadurch entstehenden Wettbewerbsverzerrungen zu Lasten der privaten Presse.

Ihr Lösungsvorschlag?

Kepplinger: Wie wird man Journalist? Indem man ein Praktikum macht, als gelegentlicher Mitarbeiter einen Beitrag verfaßt, irgendwann fester freier Mitarbeiter oder Volontär wird. Wer aber tastet sich da auf diese Weise voran? Meist junge Idealisten, die Aspekte der Gesellschaft ablehnen – aber von der Eigengesetzlichkeit letzterer kaum Ahnung haben. Zu 25 Prozent haben sie Sprachwissenschaften studiert, zu 17 Prozent Journalistik/Publizistik, zu 15 Prozent Sozialwissenschaften und zu fünf Prozent andere Geisteswissenschaften – Naturwissenschaften dagegen nur zehn Prozent, Ökonomie acht und Jura vier Prozent. Jene also, die die Räder einer Gesellschaft am Laufen halten, sind in den Medien in der Minderheit. Daher sollten die Medien ihren Nachwuchs aktiv rekrutieren – indem sie sich in Universitäten und Fachhochschulen selbst um gute Absolventen von Fachrichtungen bemühen, die Wirtschaft und Gesellschaft gestalten und die in den Redaktionen fehlen, wie Physiker, Chemiker, Biologen, Informatiker, Mediziner, Volks- und Betriebswirte. Und sie sollten ihre Ausbildung mehr an den Kriterien des professionellen Umgangs mit Unfällen oder Katastrophen orientieren, als an der Bereitschaft zur tätigen und emotionalen Anteilnahme an dem Geschehen, über das sie berichten. 






Prof. Dr. Hans Mathias Kepplinger, der Kommunikationswissenschaftler und Politologe war bis 2011 Professor für Empirische Kommunikationsforschung sowie Geschäftsführender Leiter des Instituts für Publizistik an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz. Er begann als Assistent am Institut für Publizistik von Elisabeth Noelle-Neumann, mit der er eng zusammenarbeitete. Gemeinsam gehören sie zu den Wegbereitern der „Mainzer Schule“, die die Wirkung von Medien analysiert. Kepplinger publizierte zahlreiche Bücher, darunter „Totschweigen und Skandalisierung“ (2017), „Die Mechanismen der Skandalisierung“ (2005) und „Die Demontage der Politik in der Informationsgesellschaft“ (1998). Geboren wurde er 1943 in Mainz.

Foto: ARD-Talkshow „Hart aber fair“: „Wer wird denn Journalist? Meist Idealisten, die Aspekte der Gesellschaft ablehnen – aber von der Eigengesetzlichkeit letzterer kaum Ahnung haben“

 

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