© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/20 / 29. Mai 2020

„Unsere Landsleute brauchen
Wahrheit wie das tägliche Brot“ Ende Mai 1945 formierten Dolf Sternberger und Alexander Mitscherlich erste Ansätze einer deutschen Verwaltung und Presse in der US-amerikanisch besetzten Pfalz / Unter den Franzosen endete das jäh
Hans-Jürgen Wünschel

Am Tag der Kapitulation der deutschen Wehrmacht, am 8. Mai 1945, fuhr ein US-amerikanischer Jeep nach Baden-Baden und hielt vor dem Haus, in dem Dolf Sternberger, der frühere Redakteur der Frankfurter Zeitung, wohnte. Dem Militärfahrzeug entstiegen der amerikanische Captain Harold Landin und Alexander Mitscherlich, Oberarzt in Heidelberg, der nun endlich die Person gefunden hatte, die er seit einigen Tagen suchte. Dieser rief er zu: „Sternberger, wir sollen eine Regierung bilden!“ Doch der antwortete: „Ich habe dazu keine Lust, ich will eine Zeitung machen!“ Mitscherlich entgegnete: „Das hat noch eine gute Weile, es gibt jetzt Wichtigeres zu tun!“ 

In Neustadt wurde im Mai 1945 eine  deutsche Reichsregierung gebildet. Das Nachrichtenblatt der 12. Heeresgruppe meldete, daß die „erste provisorische Regierung eines größeren Verwaltungsgebietes Deutschlands unter amerikanischer Besatzungshoheit am Freitag, dem 18. Mai 1945, eingesetzt wurde: Das Gebiet umfaßte die Provinz Saar, Pfalz und Hessen südlich des Mains. Hermann Heimerich wurde zum Oberpräsidenten des Verwaltungsgebietes ernannt (JF 28/05).

Die Pläne dafür waren 1944 an der Universität von Charlottesville in North Carolina ausgearbeitet und von den US-Amerikanern im Herbst 1944 im französischen Nancy konkretisiert worden. Der mit der 70. US Division im März 1945 in die Pfalz einmarschierende Capitain Landin hatte den Auftrag erhalten, Kontakt mit dem Heidelberger Philosophieprofessor Karl Jaspers aufzunehmen, der ihm dann eine Anzahl von Personen nannte, die für eine solche Tätigkeit in Frage kämen. 

Bereits am 18. Mai 1945 wurde von amerikanischen Offizieren auch die Frage der Herausgabe einer Zeitung im besetzten Gebiet diskutiert. „Ich hatte ein Amt, aber keinen Titel; ich war für die Presse zuständig“, erinnerte sich Dolf Sternberger. Als Leiter des Presse- und Informationsamts formulierte er am 15. Juni 1945 „Grundsätze für den Neuaufbau der Presse in einem freiheitlichen und demokratisch verfassten Deutschland“. 

Jede Zusammenarbeit mit den Franzosen abgelehnt

Exakte Informationen über Zustände und Vorgänge in und außerhalb der eigenen Provinz seien lebenswichtig, damit allgemeine Einsicht in die konkrete Situation nach der Niederlage sich verbreite. Da es keine Schulen und Theater gäbe, sei es für die Deutschen dringlich und eilig, daß mit einer Zeitung ein Mittel der Erziehung geschaffen werde. Unter der Überschrift „Vergeßt nicht“ sollten Zitate aus Hitlers Reden veröffentlicht werden. Im Feuilletonteil wollte er Auszüge aus den Werken großer deutscher Dichter vorstellen. Themen und Reportagen aus aller Welt seie notwendig. Familienanzeigen seien aus menschlichen Gründen wegen der ungeheuren Zerstreuung der Familien   zu wünschen. Öffentliche Meinung lebe von der Idee der Wahrheit. „Unsere Landsleute brauchen Wahrheit wie das tägliche Brot. Eine innere Orientierung, Mut, Zuversicht und eine klare Vorstellung von den Möglichkeiten der Zukunft – das alles vermag in glaubwürdiger und wirksamer Weise nur die eigene deutsche Stimme zu vermitteln.“ 

Bei politischen Nachrichten solle auf scharfe Trennung zwischen Tatsache und Erläuterung geachtet werden. Die Vergangenheit müsse um der Zukunft willen ins Gedächtnis gerufen werden, auch die Ideen des Rechts, welches auch die Inhaber der Macht bindet, der Gleichheit aller Menschen vor Gott und die christliche Überlieferung. „Die Zehn Gebote bilden ein Grundgesetz jedes menschlichen Gemeinwesens.“  

Die Zeitung sollte Die Stimme genannt und zum Preis von zehn Pfennig verkauft werden. „Ein guter Leser ist nur, wer auch ein Käufer ist.“ Als Sitz der Redaktion war Neustadt geplant. Die monatlichen Herstellungskosten bezifferte er auf 30.000 Mark. Sternbergers Ideen fanden bei der US-amerikanischen Militärregierung Zustimmung.

Mitten in dieser Aufbauphase wurde jedoch bekannt, daß die Amerikaner und die Franzosen sich über eine Besatzungszone für die „Grande Nation“ geeinigt hätten und deshalb die US-Army am 10. Juli 1945 das linke Rheinufer räumen und die Franzosen dieses Gebiet übernehmen würden. 

US-Amerikaner protegierten den jungen Arzt Mitscherlich

Wie alle seine anderen Kollegen war Sternberger nicht bereit, mit den Franzosen zusammenzuarbeiten. Die Erinnerung an die schreckliche und besonders für die Frauen und Mädchen leidvolle französische Besatzungszeit zwischen 1918 und 1930 war noch zu frisch, um sich guten Glaubens in den Dienst der Franzosen zu stellen. Sternbergers Traum sollte sich so erst Jahre später verwirklichen, als er dann doch Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wurde. 

Karl Jaspers hatte den Amerikanern neben Theodor Heuss auch den protestantischen Pfarrer Otto Dibelius, später Vorsitzender EKD, genannt. Doch  strichen ihn die Amerikaner wegen dessen in der Zeit des Nationalsozialismus gezeigten Hitlerverehrung und Antisemitismus von der Liste. Der Heidelberger Arzt Alexander Mitscherlich (1908–1982) dagegen fand Gefallen bei den Militärs. Auf der Titelseite des Nachrichtenblatts der Alliierten 6. Heeresgruppe war am 26. Mai 1945 zu lesen: „Zum Leiter des Gesundheitsamtes wird Dr. Alexander Mitscherlich als jüngstes Mitglied der deutschen Regierung ernannt. (...) Neurologe an der Heidelberger Universität. Von 1937 bis 1938 war er wegen seiner aktiven Betätigung gegen die Nazis in Haft. Er war auch in die Ereignisse des 20. Juli 1944 verstrickt.“ Bereits am 9. Mai 1945, fand sich Mitscherlich zusammen mit seinen Kollegen in Neustadt ein. In der Nachmittagssitzung vom 14. Mai 1945 gab er zu bedenken, ob man nicht „im Hinblick auf die Armut an Menschen (...) Parteigenossen, die nicht aktiv tätig waren und mehr oder weniger nur dem Druck gehorchend der Partei beigetreten sind, bei ganz besonderer Befähigung heranziehen könnte.“ 

Woher sollte man schließlich die Personen nehmen, um eine effektive Aufbauarbeit zu leisten? Viele waren belastet, andere mußten sich nach Jahren des furchtbaren Krieges besinnen. Mitscherlich: „Es wäre unrichtig, daß Nationalsozialisten arbeitslos auf der Straße herumlaufen und wir alle Arbeit allein zu verrichten hätten  (...) Sie müssen ihre Fähigkeiten zeigen, ob sie die Berechtigung haben, nach dieser Katastrophe, in die sie uns geführt haben, weiterhin mit uns zusammenzuarbeiten.“ 

Einen Monat später legte Mitscherlich eine erste Bilanz vor: „Gegenwärtig entspricht der Ernährungssatz pro Kopf der Bevölkerung dem Verbrauch eines Menschen, der untätig im Bette liegt. Ich darf hinzufügen, daß die sechs Kriegsjahre mit ihrer körperlichen und seelischen Belastung die körperliche und psychische Stabilität der Bevölkerung schwerstens erschüttert haben (...) Ich richte einen dringenden Appell an die amerikanische Militärregierung: Sie würden uns die Arbeit unendlich erleichtern, wenn sie uns einmalig für mehrere Monate einen Zuschuß an Fetten und Fleisch gewähren würde.“ Seine hoffnungsvolle Arbeit wurde durch den Wechsel der Besatzungsmacht zerstört. Es begann wieder eine leidvolle Zeit in der Pfalz.