© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/20 / 03. Januar 2020

Ein konservativer Notenrevolutionär
Romantik: Der Dirigent Gerd Schaller sucht für jede Symphonie Anton Bruckners die richtige Fassung
Jens Knorr

Anton Bruckner habe, so geht ein Musikerwitz, nur eine einzige Symphonie komponiert, diese jedoch neunmal. Daran stimmt wenig. Allein schon die Anzahl ist untertrieben. Denn sowohl die Studien-Symphonie von 1863 als auch die annullierte

d-Moll-Symphonie von 1869, die „Nullte“, sind da ebensowenig eingerechnet wie die unterschiedlichen Fassungen der gezählten Symphonien, die je eigenständigen Charakter aufweisen. Und doch scheint dem oberflächlichen Hörer die eine von der anderen Symphonie kaum zu scheiden, und er vermeint, daß sich ein Stück aus der einen ohne weiteres in eine andere versetzen ließe.

Das hat mit nichtadäquatem und adäquatem Hören zu tun: eines Hörers, der nur seine eigenen Gefühle auf die Musik projiziert, und eines Hörers, der die Musik in Verlauf und in Zusammenklang der Stimmen nachzuvollziehen lernt. Dabei sind die Gefühle des ersteren nicht einmal mehr seine eigenen, denn längst wurden sie enteignet durch Gerede und Bilder von gotischen oder romanischen Kathedralen, erhabenen Gebirgslandschaften, Sonnenauf- und -untergängen und Alpenglühen auf Schallplatten- und CD-Verpackungen oder in Szene gesetzte Hände und geschlossene Augen des Dirigenten, der seinem allerwerten Konzertpublikum den Allerwertesten zudreht – Bilder, die sich vor die Musik drängen und das Hören präjudizieren.

Doch hat das eingangs gegebene Aperçu durchaus auch sein Stimmiges. Vor dem Ersthörer bauen sich Bruckners Symphonien als ein monumentaler Gesamtbau auf, ein symphonischer „Koloß von Prora“, eine Architektur, die nicht auftauen will. Kennt man eine, kennt man alle, scheint doch das kompositorische Betonstahlgitter nach den immer gleichen Formeln geschweißt und mit breit angelegten ostinaten Steigerungsflächen ausgegossen. Aber darin geht Bruckners Komponieren nicht auf. 

Editorische Irrungen und Wirrungen

In seiner 1987 erschienenen und immer noch unentbehrlichen Bruckner-Biographie hat der Musikwissenschaftler Mathias Hansen – im Anschluß an Werner F. Korte – Bruckners Komponieren als „umfassendes Mutationsverfahren“ dargestellt, bei dem „durch die Variantentechnik die diskursive Entwicklungsdramaturgie der klassischen Sinfonik außer Kraft gesetzt wird und an ihre Stelle eine offene, auf motivische, das heißt rhythmische Invarianten bezogene Formbildung rückt. Also keine zielgerichtete Bewegung (Entwicklung) mehr, sondern eine kreis- bzw. spiralförmige Entfaltung, deren Ereignisfolge einer Kette von scharnierartig ineinandergreifenden ‘kreisförmigen’ Ereignissen gleicht.“

Unter der Oberfläche der klassischen Symphonieform, die Bruckner scheinbar noch zu erfüllen suchte, findet keine Entwicklung durch Verarbeitung musikalischen Materials mehr statt, sondern etwas gänzlich anderes. Um dieses andere anders als die Sinfonik von Haydn über Beethoven bis Brahms hören zu können, fehlte Bruckners Ersthörern schlicht das Werkzeug. Die Apologeten rühmten „das Neuartige als stabilisierende Naivität“. Ihr Urteil: „mystifizierende Verherrlichung“. Die Gegner geißelten dieses andere „als unwissenden Anarchismus“. Ihr Urteil: „aggressiver Verriß“. Allseits also „ein historisch verständliches Unverständnis“! Soweit der notenmathematische Exkurs, notwendig zum Verständnis der editorischen Irrungen und Wirrungen um Bruckners Symphonien und notwendig zur Würdigung der Leistung des Dirigenten Gerd Schaller.

Bruckner war zwar in Sachen Liebe, nicht aber in Sachen Musik ein Naivling, der jeden guten oder schlechten Ratschlag seinen Symphonien gleich eingearbeitet hätte, nur um deren Aufführungen zu ermöglichen. Vielmehr bot die oben umrissene Variantentechnik Möglichkeiten, die Reihung der musikalischen Ereignisse zu ändern, einzelne Bausteine auszutauschen, wegzulassen, hinzuzufügen, ohne die Tragfähigkeit des Gesamtbaus zu beeinträchtigen. Wo er nicht ändern mußte oder wollte, etwa bei der Fünften und Siebten, da hat er auch nicht geändert oder ändern lassen.

Aber welche der Änderungen waren vom Komponisten gewollt oder nur gebilligt, welche von eigener, welche von fremder Hand, welche eine Verbesserung, welche eine Verschlimmbesserung? Welche der Fassungen wäre denn nun als die authentische anzusehen oder anzuhören: Urfassung oder Fassung letzter Hand, Zwischen- oder Mischfassung? Sollten die Editionen und Aufführungen der sogenannten Originalfassungen die Kontroversen um den „echten“ und „verfälschten“ Bruckner ein für allemal erledigen, so haben sie ganz im Gegensatz dazu beigetragen, diese zu befördern. Hansen hat vorgeschlagen, „darauf hinzuwirken, daß alle von Bruckner verbürgten Fassungen gespielt werden, um dem realen künstlerischen Umgang mit dem Werk die Entscheidung über Gültiges und Ungültiges zu überlassen.“ Schaller hat den Vorschlag aufgegriffen

Gesamteinspielung des symphonischen Werkes

Gerd Schaller, geboren 1965, hat nach Medizin- und Dirigier-Studium die klassische Dirigentenlaufbahn vom Solorepetitor zum Generalmusikdirektor durchgemacht und ist seit 2006 freischaffender Dirigent. Mit der von ihm 2008 gegründeten Philharmonia Festiva, einem Symphonieorchester mit ausgewählten Musikern deutscher Orchester, verwirklicht er seine ehrgeizigen Projekte, deren ehrgeizigstes die Gesamteinspielung des symphonischen Werks Anton Bruckners ist.

Die beschränkt er nicht etwa nur auf die gängigen Fassungen – die „Originalfassungen“ –, sondern weitet sie auf Zwischenfassungen und Varianten aus. Die Dritte spielten Orchester und Dirigent sowohl in der ersten revidierten Version von 1874 (2011) als auch in der Edition von 1890 ein, die Bruckners Schüler Franz und Josef Schalk 1890 von dem Schmerzenskind ihres Lehrers erstellt haben (2017). Die Vierte, die „Romantische“, spielten sie einmal mit dem üblicherweise gespielten Finale von 1880 (2007) und einmal mit dem kürzeren „Volksfest-Finale“ von 1878 (2013), die Achte in der Intermediär-Variante von 1888 (2010) und die unvollendete Neunte gleich dreimal, mit der Vervollständigung des Finalsatzes von William Carragan (2012), mit der von Gerd Schaller selbst (2016) und in Schallers nochmals revidierter Version (2018), ja, sie spielten sogar die „Trauermusik für großes Orchester. Dem Andenken Anton Bruckners“ von Otto Kitzler, Bruckners Kompositionslehrer, deren Orchestrierung Schaller aus der vierhändigen Klavierfassung hergestellt hat (2010). Für seine Überzeugungstaten hat den Überzeugungstäter die Bruckner Society of America mit der Julio-Kilenyi-Medaille ausgezeichnet und seine Einspielung der Studien-Symphonie zur besten Aufnahme des Jahres gekürt.

Der Aufführungsort diktiert den Klang

Aber ungeachtet ihrer vielfach bestätigten Qualitäten werfen Schallers Bruckner-Interpretationen ernste Fragen auf. Die meisten sind Konzertmitschnitte aus der Abteikirche des ehemaligen Zisterzienserklosters von Ebrach in Franken, die Mitschnitte der beiden nicht numerierten Symphonien und der Vierten aus dem Max-Littmann-Saal des Regentenbaus, Bad Kissingen. Der Aufführungsort diktiert den Klang, der Klang diktiert dem Hörer die Bilder, und er wird der Gefahr nicht leicht entrinnen können, wieder nur die abgenutzten Bilder einer allgemeinen Sakralität aufzurufen. Seinen Ohren würden die verschiedenen Fassungen einer Symphonie nicht etwa gleich gültig, sondern gleichgültig würde ihnen, welche gerade erklingt, eine einzige neun-plus-x-mal. Entmystifizierung schlüge in Mystifizierung um, alle Gott gleich nahe, wären sie alle gleich nahe dem Nichts.

Schallers Streben nach integralen Lösungen kulminiert in seinem Ringen um Bruckners Neunte. Auch diese Symphonie, mit der sich Bruckner seinem Gott am nächsten wähnte, sein „opus summum“, ist viersätzig konzipiert, allerdings von Bruckner, nicht von Carragan und nicht von Schaller. Doch läßt sich Bruckners historisches Moment nicht wiederholen und sein musiksemantisches Denken nicht zu einem guten Ende führen. Wäre nicht besser, so ist zu fragen, der Unwahrheit des Ganzen die Wahrheit der fragmentarisch erhaltenen Stücke vorzuziehen, wie sie Nikolaus Harnoncourt im Jahre 2002 in einem Gesprächskonzert vermittelt hat? Weil er weder die ersten drei noch alle vier Sätze der Symphonie als in sich vollendet hinzustellen suchte, konnte er eine Ahnung von der Kühnheit des Brucknerschen Unternehmens vermitteln.

Auch Gerd Schaller hält die Tür zu neuem Interpretationsraum weit geöffnet und hört sich, auf der Schwelle stehend, aufmerksam um.

Die Bruckner-Aufnahmen unter dem Dirigat von Gerd Schaller sind sämtlich in der Profil Edition Günter Hänssler, Neuhausen erschienen.

 www.haensslerprofil.de

 www.gerd-schaller.de

 www.ebracher-musiksommer.de