© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/19 / 12. Juli 2019

Die jüngsten Veröffentlichungen zum 20. Juli 1944 beweisen: Häufig genug mangelt es den Darstellungen der Widerstandsbewegung an Komplexität, eine Schwarz-Weiß-Malerei überwiegt. Auch netzwerkanalytische Fleißarbeiten schaffen dabei keine Abhilfe.
Digitalisierte Deutungsversuche
Oliver Busch

Im Gedenkjahr 1984 sollte Schluß sein mit der bis dahin vorherrschenden geschichtspolitischen Gleichgültigkeit in Sachen 20. Juli 1944. Im Berliner Bendlerblock, wo sich mit der Erschießung des Grafen Stauffenberg und drei seiner Mitverschwörer der Schlußakt des gescheiterten Attentats auf Adolf Hitler abspielte, begann daher – generös gefördert von der Regierung des promovierten Historikers Helmut Kohl – der Neuaufbau eines Ausstellungs- und Informationszentrums, der Gedenkstätte Deutscher Widerstand (GDW). Ihr damaliger Leiter, der Politologe Peter Steinbach, gab die Maxime aus, fortan die „Komplexität, Vielfalt und Breite des Widerstands“ besser erfassen und vergegenwärtigen zu wollen.

Im Gedenkjahr 2019 zeigen drei Darstellungen exemplarisch, wie selbstverständlich und routiniert sich Historiker mittlerweile an Steinbachs Vorgaben orientieren. Wobei es mit der Komplexität immer noch hapert, wovon eine Ausnahme von dieser Regel, Winfried Heinemanns „Militärgeschichte des 20. Juli 1944“ zeugt. Keine Schwierigkeiten bereitet hingegen, wie eine kaum noch überschaubare Literatur zu zahllosen „Widerstandsmilieus“ und eine Fülle von Tagebuch- und Brief-Editionen beweist, die „Vielfalt und Breite“. Seit langem ist daher die von Hitler in seiner ersten Rundfunkrede nach dem Attentat gewählte Formel von der „ganz kleinen Clique“ der Verschwörer widerlegt. 

Linda von Keyserlingk-Rehbein, Jahrgang 1980, Kuratorin am Militärhistorischen Museum in Dresden, die sich seit über fünfzehn Jahren mit dem „Netzwerk vom 20. Juli“ befaßt, zieht mit einem 700seitigen Opus die Summe aus der Masse jener Einzeluntersuchungen, die Hitlers Legende von der „volksgemeinschaftlich“ isolierten „Clique“ der NS-Gegner als solche entlarvt haben. Wie tief allerdings der Widerstand über die etwa 200 Akteure des 20. Juli hinaus tatsächlich im Volk verwurzelt war, bleibt ungeachtet aller Sondierungen gerade der nach 1933 reduziert fortbestehenden kommunistischen und sozialdemokratischen Arbeitermilieus weiterhin aufklärungsbedürftig. 

Mikroskopische Aufklärung versprechen hier landeshistorische Erkundungen. Zur Nachahmung ermuntert auf diesem seltener beackerten Feld die dritte Neuerscheinung, eine aus biographischen Miniaturen gefügte Erinnerung an den „zivilen Widerstand hinter dem 20. Juli 1944“, soweit er sich in Südwestdeutschland formierte. Ob im Rhein-Main-Gebiet, wie Zeitgenossen gleich nach Kriegsende kolportierten, wirklich 10.000 Männer und Frauen dem Widerstandsnetz des im September 1944 hingerichteten Gewerkschaftsfunktionärs und ehemaligen hessischen Innenministers Wilhelm Leuschner angehörten, wird von Ludger Fittkau und Marie-Christine Werner zwar mit Fug und Recht bezweifelt. 

Aber daß ausgeprägte zivile Widerstandsstrukturen entlang des Rheins bestanden, wo bis in die Zeit der Französischen Revolution zurückreichende republikanische und demokratische Traditionen fortlebten, ist den beiden journali-

stischen Verfassern dieser schmalen, mit wenigen Prominenten wie Leuschner, Carlo Mierendorff, Theo Haubach, Fabian von Schlabrendorff, Philipp von Boeselager, und vielen Unbekannten und Vergessenen bestückten Porträtgalerie, ohne weiteres abzunehmen. 

Jedenfalls sollte diese Probebohrung in der Provinz zu weiteren Vermessungen ermuntern, um die unverändert umstrittene Frage zu beantworten, wie breit die gesellschaftliche Basis des Widerstands gegen Hitler denn gewesen ist. Für Peter Steinbach und seinen Nachfolger in der GDW, den Politologen Johannes Tuchel, scheint das heute keine Frage mehr zu sein. „Nur eine verschwindend kleine Minderzahl der Deutschen“ habe sich gegen das Regime gestellt. „Die meisten bejahten das System“, „folgten bereitwillig der nationalsozialistischen Führung“ oder „paßten sich zumindest in die NS-‘Volksgemeinschaft’ ein“, wie die beiden in ihrem Geleitwort zu von Keyserlingk-Rehbeins Wälzer behaupten. 

Um zugleich in altbackene, ahistorische  Deutungsmuster der Zeit vor 1984 zurückzufallen. Denen zufolge der Umsturzversuch vom 20. Juli, quasi als einleitende Vorbemerkung zu den kosmopolitischen, barrierefreien Zugängen des Bonner Grundgesetzes, „ein Zeichen gegen jede [!] Tyrannis“ bleibe, das für „grundlegende Prinzipien von Menschenwürde und Menschenrechten“ stehe. Und nicht etwa für den Versuch, Deutschland vor den Nationalsozialisten und seinen Kriegsfeinden zu retten. Zumindest dies ist Thomas Karlaufs Stauffenberg-Biographie, die ja besonders in diesem Punkt mit ihrem als solchen nicht geliebten Helden über Kreuz liegt, zuzubilligen: klargestellt zu haben, daß es den Verschwörern am 20. Juli nicht um Moral, um abstrakte, ort- und zeitlose „Menschenrechte“ ging, sondern sehr konkret um das deutsche Volk und seinen Fortbestand als Nation. 

Davon ist bei von Keyserlingk-Rehbein nicht die Rede. Genausowenig jedoch von den „Menschenrechten“ ihrer beiden Geleit-Wortführer. Wie sich überhaupt nicht erschließt, was sie mit ihrer sich innovativ gerierenden „netzwerkanalytischen“ Fleißarbeit eigentlich an neuen Erkenntnissen über Stauffenberg und seine Mitstreiter anzubieten hat. Was nämlich so steil als Beitrag zur „Digitalisierung der Geschichtswissenschaft“ daherkommt, ist doch nur eine algorithmisch aufgerüstete Gruppensoziologie, wie man sie aus der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte genauso kennt wie aus der sozialwissenschaftlichen Elitenforschung. Dafür mustert sie die weitgehend detailliert geklärten Lebensläufe von 150 Personen, die als Mittäter oder Beteiligte vor dem Volksgerichtshof standen. Das sind ihre „Akteure“, die in ihren „Netzwerkvisualisierungen“ zu großen und kleinen, roten und grünen Punkten schrumpfen, je nach Art und Umfang der Kontakte untereinander (siehe Abbildung Seite 27). 

So findet die Verfasserin dank ihres „Open-Source-Programms Gephi“ doch tatsächlich heraus, daß Stauffenberg und Carl Goerdeler über die meisten „multiplexen Beziehungen“ verfügten. Wer sich mit wem wie häufig zu welchem Zweck traf, das akribisch zu quantifizieren und in „Betweeness-Werten“ zu messen – das ist von Keyserlingk-Rehbein akkurat gelungen. Aber wer will das wissen? Auf 700 Seiten dokumentiert sie damit eher die Austreibung der Geschichte aus der Geschichtswissenschaft, so daß von ihr eine digitalisierte Wissenschaft vom Nichtwissenswerten übrigbleibt.

Da bewegt sich der Potsdamer Historiker Winfried Heinemann mit seiner militärgeschichtlichen Durchleuchtung der „Operation Walküre“ auf einem höheren Niveau. Der Schüler Hans Mommsens verabschiedet sich – insoweit identifizierbar als Urheber von Karlaufs Interpretation – rigoros von allen moralisierenden Deutungsmodellen in jener „sinnstiftenden Absicht“, wie sie Steinbach und Tuchel immer noch feilhalten. Heinemann gibt den Männern des 20. Juli damit zurück, was sie einmal besaßen: die „Fülle der möglichen Zukunft, die Ungewißheit, die Freiheit, die Endlichkeit“ und selbstredend auch ihre „Widersprüchlichkeit“ (Thomas Nipperdey). 

Daß man in der von Stauffenberg ab 1943 neu aufgebauten „Staatsstreichorganisation“ anders über das Verhältnis von Politik und Militär dachte als die nationalkonservativen Zivilisten um Goedeler und Ulrich von Hassell, daß diese Vorstellungen keineswegs mit den Aussagen des Grundgesetzes über den Primat des Politischen oder den Kerngedanken der „Inneren Führung“ übereinstimmte, das ist nur einer von Heinemanns Befunden, die sich gegen geschichtspolitische Vereinnahmungen richten. 

Die zweifellos schärfsten Abgrenzungen gegen solche Aktualisierungen und Schwarz-Weiß-Malereien trägt Heinemann in den Kapiteln über die „Verbrechen in den besetzten Gebieten“, Henning von Tresckow, die Heeresgruppe Mitte und den „Widerstand und Rußland“ vor. Hier wird der Abgrund sichtbar gemacht, der die Militäropposition in der „Judenfrage“ vom NS-Regime trennte. Und andererseits wird in hermeneutischer Sorgfalt dargelegt, wie sich die „Verschlingung“ von konventioneller Kriegführung, Weltanschauungskrieg gegen den Bolschewismus und rassenideologischem Vernichtungskrieg für die Offiziere um Tresckow erst löst mit dem Massaker bei Borisov am 20. Oktober 1941. 

Mit der unterschiedslosen Ermordung von jüdischen Männern, Frauen und Kindern markierte es den Übergang von der Partisanenbekämpfung zum Völkermord. Tresckows unumstößlicher Entschluß, den Urheber solcher Verbrechen zu töten, dürfte an diesem Tag gefaßt worden sein. 






Oliver Busch, Jahrgang 1970, studierte Geschichte in Berlin und Leipzig.