© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/19 / 12. Juli 2019

Was wäre wenn …?
Stefan Scheil

Die Frage nach den möglichen Konsequenzen eines erfolgreichen 20. Juli 1944 gehört zu den besonders beliebten Geschichtsspekulationen. Mit der Erkundigung nach „Was wäre wenn?“ lassen sich auf gewissen Suchmachinen des Internets in diesem Zusammenhang Millionen Treffer erzielen.Das ist natürlich die Nebenwirkung einer exzentrischen Geschichtsschreibung, die gewohnheitsmäßig die angenommene Kriegslust des Diktators Adolf Hitler bemüht. Dessen sonstige Eigenschaften ließen ihn zusätzlich zum Rekordhalter auf den Titelseiten deutscher Nachkriegsmagazine werden. Hitler geht immer. Aus dieser Perspektive gewinnt die Frage einen gewissen Reiz, ob die Entfernung dieser Person aus dem Geschehen 1944 nicht wesentliche Folgen hätte haben müssen.

Dies stellte vor dem Attentat eine ebenso spekulative Frage dar wie danach. Selbst der deutsche Widerstand des Jahres 1944 hatte sie für sich nicht eindeutig beantwortet. Viele Widerständler neigten dazu, den Staatsstreich unter diesen Umständen bereits als große Geste gerechtfertigt zu sehen. Sie billigten und betrieben ihn selbst unter der Annahme, eine neue Regierung würde an der endgültigen deutschen Niederlage nichts ändern können. Andere glaubten fest an diese Chance, darunter auch Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Stauffenberg sei fest und sogar unbelehrbar der Ansicht gewesen, „nach der gesamteuropäischen Kriegslage müsse eine Verhandlungswilligkeit der Briten und Amerikaner unbedingt vorliegen“, sagte Mitverschwörer Adam von Trott zu Solz später aus.

Es gab vor dem 20. Juli 1944 aus dem gegnerischen Lager jedoch nur wenige Anzeichen, die in diese Richtung gingen, und die hatten die ungesunde Tendenz, den deutschen Widerstand am Nasenring durch die Manege zu führen. Schon seit der Vorkriegszeit wurden die Hitlergegner durch die Kreise um Winston Churchill mit gezielten Desinformationen versorgt, die für den Fall des Staatsstreichs goldene Brücken in Aussicht stellten. Insbesondere Carl Friedrich Goerdeler hatte bereits seit dieser Zeit Kontakte zu jener parteiübergreifenden Pressure-Group, die Winston Churchill systematisch als neuen Premier aufbaute und gleichzeitig durchblicken ließ, man werde einer anderen deutschen Regierung als den Nationalsozialisten durchaus große Zugeständnisse machen.

Solche Signale konnten kaum ehrlich gemeint sein. Schließlich stand neben manch anderen Aspekten im Zentrum des europäischen Krieges immer noch die „deutsche Frage“. Mit anderen Worten, es standen die Konsequenzen im Mittelpunkt, die ein politisch vereintes Deutschland für das europäische Machtgefüge haben würde. Dabei machte es entgegen mancherlei späteren Deutungen keinen grundsätzlichen Unterschied, welche innere Verfassung dieses Deutschland haben würde. Ob kaiserlich, demokratisch, nationalsozialistisch oder mit dem Geist des 20. Juli erfüllt, in gewissem Umfang bestand aus Sicht mancher Weltenplaner in London, Moskau oder Washington immer das gleiche Problem mit diesem Deutschland.

Das galt selbstverständlich nicht für alle. Der laufende Konflikt sei der dümmlichste Krieg, den Großbritannien je geführt habe, war vom britischen Ex-Premier David Lloyd George noch im Frühjahr 1940 zu hören. Es gebe überhaupt keinen Grund, warum die Deutschen sich nicht in einem Staat vereinen sollten, der natürlicherweise eine privilegierte politische wie wirtschaftliche Stellung in Mittel- und Südosteuropa einnehmen würde. Er empfahl, diesen Krieg abzubrechen und stand 1940 auch bereit, noch einmal den Regierungschef zur Umsetzung dieses Vorschlags zu geben.

Dem standen jene Personen gegenüber, die eine privilegierte deutsche Stellung ebendort als für unvereinbar mit den Interessen der übrigen Staatenwelt erachteten. Immer wieder wird dieser Eindruck auch durch neue, originelle Quellen bestätigt. Vor einigen Jahren erschienen die Tagebücher des damaligen Londoner Sowjetbotschafters Ivan Maisky, der sich demnach mit dem kommenden englischen Regierungschef Winston Churchill schon 1938 einig war: ein deutsches Mitteleuropa sei mit den gemeinsamen Interessen unvereinbar. Noch im selben Jahr kündigte Churchill dem Gegenüber an, später seinen antikommunistischen Kreuzzug wieder aufzunehmen. Aber erst einmal müsse Deutschland beseitigt werden.

Daher gab es für jede deutsche Regierung theoretisch allerhand zu unterschreiben, sollte ein Frieden unter Bedingungen geschlossen werden, die genau diese Entwicklung in Richtung „Mitteleuropa“ aus Sicht der Alliierten ausschlossen. Theoretisch kann in diesem Zusammenhang letztlich nur bedeuten, daß eben niemand diese Bedingungen unterschrieben hätte. Keine Regierung, die aus dem 20. Juli hervorgegangen wäre, hätte die Zerstörung Ostdeutschlands jenseits von Oder und Neiße gebilligt. Sowenig, wie dies später Konrad Adenauer oder Kurt Schumacher taten.

Zu den Konstanten alliierter Planung gehörte die Beseitigung politischer Optionen Deutschlands, die sich aus der Zahl der Deutschen und der Ausdehnung ihres Siedlungsgebiets unvermeidlich ergaben. Deutsche im böhmischen Becken, Deutsche jenseits von Oder und Neiße, sie alle waren eine potentielle Gefahr für die angedachte politische Ordnung. Das galt aus strategischen und aus ökonomischen Gründen, teilweise sogar aus soziologischen Hintergedanken. Einen Kern der deutschen Unbotmäßigkeit meinte man in der Existenz des ostelbischen Junkertums ausgemacht zu haben. Um diese Schicht ein für allemal ökonomisch zu vernichten, wurde es für nötig erachtet, die von ihr dominierten Gebiete zu entdeutschen. Dieses Motiv spielte in Großbritannien besonders bei der Entscheidung eine Rolle, auch Pommern mit in die Vertreibungsgebiete mit einzubeziehen.

Unter solchen Vorzeichen beschloß das britische Außenministerium, diese Deutschen aus den Landen östlich von Oder und Neiße mögen doch bitte als sowjetische Zwangsarbeiter in Sibirien enden, wo ihr Schicksal abseits der Augen der Weltöffentlichkeit keine politischen Probleme machen könnte. Das war im Sommer 1944, also in unmittelbarem Umfeld des 20. Juli – und die Sowjets lehnten ab.

Was wären also die Folgen gewesen, hätte eine nicht-nationalsozialistische Regierung nach dem 20. Juli 1944 mit den Alliierten verhandeln wollen? Die Aussichten auf ein Ergebnis lassen sich in der Nähe von Null ausmachen. Ob nun Goerdeler, Trott zu Solz oder Stauffenberg in den Verhandlungsring gestiegen wären, an der grundsätzlichen Feindschaft der Gegner hätte das nach aller Voraussicht nichts geändert. Wie weit die Positionen ohnehin auseinandergelegen hätten, zeigt die lange Liste der Verhandlungsgrundsätze gegenüber den Alliierten, die Stauffenberg aus der Perspektive von Mai 1944 für den Fall des erfolgreichen Staatsstreichs aufstellte. 

Aufgeführt waren unter anderem: die sofortige Einstellung des Luftkrieges; der Verzicht auf die alliierten Invasionspläne; Sicherung der Verteidigungsfähigkeit im Osten bei dem Angebot der Räumung aller besetzten Gebiete im Norden, Westen und Süden; keine alliierte Besetzung Deutschlands; eine freie Regierung mit eigener, selbstgewählter Verfassung; Behandlung Deutschlands als gleichberechtigtem Verhandlungspartner bei allen folgenden Konferenzen; Kriegsverbrecherprozesse nur unter deutscher Regie. Territorial wollte Stauffenberg die Reichsgrenze von 1914 im Osten gesichert wissen; Österreich und die Sudetengebiete als Teil des Reichs. Autonomie für Elsaß-Lothringen wurde in Aussicht gestellt, ebenso die Zurückgewinnung der deutschen Teile Südtirols einschließlich Bozen und Meran. Dazu gesellten sich als allgemeine Ziele: Wiedergewinnung von Ehre, Achtung und Selbstachtung.

In einer ausführlicheren Denkschrift, die Stauffenbergs Einfluß zugeschrieben wird, wurde zudem ein möglichst geschlossenes deutsches Kolonialreich in Afrika gefordert sowie die natürliche Führungsrolle Deutschlands in ganz Europa betont. Am Ende wurde die künftige Rolle der angelsächsischen Mächte in der Weltpolitik in einer denkwürdigen Formulierung angesprochen: „Im übrigen bleibt dem englischen Empire unter Neuordnung des Kolonialbesitzes zugunsten Deutschlands ebenso wie den Vereinigten Staaten selbst, vollkommene Freiheit, ihre Politik ihren Bedürfnissen entsprechend einzurichten.“

Diese Überlegungen wären wohl selbst von grundsätzlich verhandlungsbereiten Kriegsgegnern zurückgewiesen worden. Sie zeigen in jedem Fall einen großdeutschen Patriotismus, der glaubte, in einem Umsturz nicht nur die letzte, sondern auch eine gute Chance für seine Verwirklichung sehen zu können. 

Wie hätten die Männer des 20. Juli auf die sicher radikale Zurückweisung ihrer Gesprächsangebote reagiert? So viel ist gewiß: Das Dilemma der neuen deutschen Regierung hätte unter dem außenpolitischen Aspekt dem Dilemma der alten geglichen. An Verhandlungsangeboten gegenüber den Alliierten hatte es das NS-Regime ebenfalls nicht fehlen lassen. Sie waren alle im Sand verlaufen und nur durch „völlige Stille“ beantwortet worden, wie die offizielle Anweisung an britische Diplomaten gelautet hatte. Wenn sie wollen, können die Deutschen jederzeit kapitulieren, höhnte Churchill im Sommer 1940. Konnte es aber für irgendeine Regierung eine ernsthafte Option sein, sich aus dem Staub zu machen und das eigene Land einem ungewissen Schicksal zu überlassen? 

Dieser Frage hätten sich die Männer des 20. Juli wie ihre Vorgänger stellen müssen. Ob daher wenigstens die meistgenannte Folge eines erfolgreichen Staatsstreichs eingetreten wäre, nämlich die Vermeidung der ungeheuren Zahlen an deutschen Todesopfern während des letzten Kriegsjahrs, ist auch nicht ganz sicher. Dazu wäre es erforderlich gewesen, die gesamten deutschen Streitkräfte einfach zu übergeben. Ein undenkbarer Schritt, zumal gegenüber der Roten Armee, die zwischen Frühjahr 1944 und Frühjahr 1945 keine Gefangenen mehr machte und in den Wochen vor dem 20. Juli praktisch die gesamte Heeresgruppe Mitte in Weißrußland niedermetzelte.

„Bedingungslos kapituliert“, also die Sieger durch eigenhändige Unterschrift aus der Verantwortung für ihre in Deutschland beabsichtigten Verbrechen entlassen, hätte wohl niemand der Genannten. Diese abstruse Forderung der deutschen Kriegsgegner hätte unter allen denkbaren deutschen Regierungen die Weiterführung des Krieges geradezu erzwungen.

Man kann das Land und vor allem die am 20. Juli Beteiligten daher in gewisser Weise beglückwünschen, solche Verhandlungen nie geführt zu haben. Sie hätten zu einer umfassenden Ernüchterung geführt. Sie würden es heute noch, in einem Land, das sich mit dem Doppelmythos von Alleinkriegsschuld und Befreiung eine psychologische Erkenntnisbarriere und die geschichtspolitische Basis geschaffen hat, auf der es glaubte, erfolgreich in die Zukunft sehen zu können.






Dr. Stefan Scheil, Jahrgang 1963, ist Historiker, Publizist und Mitglied im Kuratorium der Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz.