© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/19 / 12. Juli 2019

„Die Rettung des Reichs“
Moritz Schwarz

Zum deutschen Widerstand hat die JUNGE FREIHEIT im Laufe der Jahre zahlreiche Interviews geführt. Die bedeutend­sten darunter sind zweifellos jene, die noch mit Kämpfern der Erhebung gegen Hitler gelangen, bevor mit Ewald-Heinrich von Kleist am 8. März 2013 der letzte Überlebende des 20. Juli verstarb. Außer ihm – an jenem Tag als junger Leutnant im Berliner Bendlerblock mit dabei – zählen zu diesen besonderen Gesprächspartnern der Ritterkreuzträger Philipp Freiherr von Boeselager, der das geplante Pistolenattentat auf Hitler bei dessen Besuch der Heeresgruppe Mitte 1943 mit ausführen sollte, sowie der österreichische Offizier Carl Szokoll, dem als Stauffenbergs „Mann in Wien“, anders als in Berlin, in Österreichs Kapitale der Umsturz am 20. Juli gelang. Außerdem die Geschwister Hans Hirzel und Susanne Zeller-Hirzel, Freunde der Geschwister Scholl und Aktivisten der Widerstandsgruppe Weiße Rose und wie letztere abgeurteilt vom höchsten Richter des Dritten Reichs, Roland Freisler, dem berüchtigten Präsidenten des Volksgerichtshofs. Doch nur Auszüge einer kleinen Auswahl an Interviews können wiedergegeben werden. Der Platznot zum Opfer fallen so leider Zitate aus den Gesprächen mit Bernd Freytag von Loringhoven, Johann Adolph von Kielmansegg, Wolf-Dieter von Wartenburg, den Töchtern Graf Hardenbergs, Goerdeler-Tochter Marianne Meyer-Krahmer, den Gestapo-Verfolgten Franz von Hammerstein und Lothar Groppe und vielen anderen.

Auffällig ist, daß alle Interviewten, die dem Widerstand angehörten, von jenem tiefen „Attachement an Volk und Land“ (Ewald-Heinrich von Kleist) als einem entscheidenden Motiv für den todesverachtenden Einsatz berichteten, das in der zeitgeistigen Rezeption heute zwar nicht geleugnet, aber beschwiegen wird. Und so entsteht für die heutige Generation junger Deutscher ein verzerrtes, politisch-korrektes Bild des deutschen Widerstands als eines fast rein rational-ethischen „Aufstands des Gewissens“, statt einer ideali-

stischpatriotischen Erhebung für die Nation und zur „Rettung des Reichs“ (Philipp von Boeselager) – die der Widerstand aber eben auch, wenn nicht sogar vor allem war. Statt dessen erscheint in der populären Darstellung oft selbst der nationalkonservative Widerstand als Vorläufer von Verfassungspatriotismus, „Zivilgesellschaft“ und sogar des „Kampfs gegen Rechts“. Während die tatsächliche, meist durch ein tiefes humanistisch-national bis nationalistisches Kulturdeutschtum geprägte Gefühls- und Gedankenwelt der Widerständler, mit meist elitärem Bildungsbewußtsein, pietätvoller Religiosität und heroischem Menschen- und Geschichtsbild, jungen Deutschen unbekannt bleibt – wenn nicht gar absurderweise des Nazismus verdächtig ist. Dem entgegenzuwirken, auch dazu dienen diese Interviews der JUNGEN FREIHEIT.

Ewald-Heinrich von Kleist (1922–2013), Sohn des 1945 hingerichteten Widerständlers Ewald von Kleist-Schmenzin. 1944 erklärte er sich als junger Leutnant der Wehrmacht zu einem (verhinderten) Selbstmord-

attentat auf Hitler bereit. Am 20. Juli 1944 war er mit der Pistole in der Hand an der Seite Stauffenbergs an der Entmachtung Generaloberst Friedrich Fromms, dem Oberkommandierenden des Ersatzheeres, im Bendlerblock beteiligt, sowie an der Verhaftung des Berliner Garnisionkommandeurs und der Entwaffnung der SS. (JF 21/2001)

Weshalb waren ursprünglich Sie statt Stauffenberg als der Hitler-Attentäter vorgesehen?

Ewald-Heinrich von Kleist: Da Stauffenberg für den Staatsstreich die zentrale Rolle spielte, sollte er nicht noch mit dem Attentat belastet werden.

Damals war der Plan, daß Sie sich zusammen mit Hitler in die Luft sprengen. Wie reagierte Ihr Vater Ewald von Kleist, eine wichtige Figur des Widerstands, als der davon erfuhr?

Kleist: Ich weiß, daß viele gerne über diese Rührgeschichten reden. Bitte verstehen Sie – ich nicht.

Und Sie, waren Sie nicht entsetzt?

Kleist: Da wäre wohl jeder unangenehm berührt.

Warum waren Sie zu diesem Opfer bereit?

Kleist: Ich empfand das NS-Regime als unerträgliche Unrechtsherrschaft und empfand etwas, was heute nicht mehr üblich ist, doch damals eine große Rolle spielte, nämlich ein großes Attachement an mein Volk und an mein Land. Zum einen fand ich entsetzlich, welche Verbrechen im deutschen Namen verübt wurden. Zum anderen hatte ich als Offizier im Krieg erlebt, was für eine Tragödie es ist, wenn Menschen sterben und (...) würde der Krieg weitergehen, würden noch unendlich viele sterben müssen. Und auch die Zerstörung meines Landes weitergehen.

Woher rührte dieses „Attachement“ ?

Kleist: Ich bin nun mal als Deutscher geboren und bin es immer, ungeachtet aller Höhen und Tiefen, gerne gewesen. Deshalb empfand ich auch diese unendliche Scham über die Verbrechen, die im deutschen Namen begangen wurden.

Dem 20. Juli wird vorgeworfen, er hätte sich kaum um die Rettung der Juden geschert.

Kleist: Man verkürzt heute die NS-Verbrechen auf die Ermordung der Juden. Das ist so nicht richtig, viele andere Menschen wurden ebenso ermordet. Es ist aber nicht entscheidend, wer ermordet wird, sondern daß es geschieht. Insofern ist das ein sehr törichter Vorwurf. Die Judenfrage an sich war für uns nicht exorbitant, da sie sich nicht abhob von unserer völligen Verurteilung der Rechtsbeugung durch den Nationalsozialismus.

Sie haben Graf Stauffenberg persönlich kennengelernt, welchen Eindruck machte er?

Kleist: Es gibt Leute, die große Idealisten sind, aber nicht mit beiden Beinen auf dem Boden stehen. Dann gibt es die kühlen Macher. Eine Mischung aus beiden ist unerhört selten. Ein solch seltenes Exemplar war Graf Stauffenberg. Ein glühender Idealist, mit unerhörtem Charme, aber doch auch ganz matter of fact, also ganz klar und präzise. Diese Mischung sozusagen aus Hitze und Kühle, war für mich ein ungeheuer attraktives Moment, wie ich es selten nur wiedergetroffen habe. Ein ganz unerhörter Mensch. 





Philipp Freiherr von Boeselager (1917–2008) plante 1943 mit Stabsoffizieren der Heeresgruppe Mitte zwei Attentate auf Hitler. Zunächst wollte er ihn bei einem Besuch der Ostfront erschießen. Dann plazierte die Gruppe eine Bombe (­deren Zünder einfror). Der Ritterkreuzträger und spätere Major a.D. beschaffte schließlich den Sprengstoff für den 20. Juli und organisierte die (nach dem Scheitern Stauffenbergs aufgegebene) Besetzung Berlins durch einen Verband der Heeresgruppe. 

(JF 30/2003)

Wird der 20. Juli heute angemessen gewürdigt?

Philipp Freiherr von Boeselager: Während sich viele Politiker gerne als Erben des 20. Juli darstellen, haben sie nach 1990 zahllose Alteigentümer um die Rückgabe ihres von den Kommunisten nach 1945 geraubten Besitzes betrogen. Da für den 20. Juli der Kampf gegen die Diktatur gleichbedeutend war mit dem Kampf für den Rechtsstaat, stellt dies eine Verhöhnung dar. Daran wird schmerzhaft deutlich, wie es tatsächlich um die Anerkennung des 20. Juli bestellt ist.

Nach dem Abtreibungskompromiß von 1992 sind Sie aus der CDU ausgetreten. Warum?

Boeselager: Weil das Recht auf Leben zu den zentralen Zielen zählte, für deren Wiederherstellung die Männer des 20. Juli fielen.

Stimmt es, daß die Deutschen die Demokratie erst nach 1945 von den USA gelernt haben?

Boeselager: Nein. Denn nach den Vorstellungen des 20. Juli sollte das Deutsche Reich zu seiner historischen föderalistischen Struktur zurückkehren. Und das ist mehr als eine Staatsstruktur, darin steckt auch eine Idee von der Demokratie, nämlich der Gedanke der Subsidiarität! Das neue alte Deutsche Reich sollte also ein hohes Maß an demokratischer Struktur und Bürgerverantwortung sicherstellen (...) Die Deutschen sollten wieder zu Staatsbürgern werden, wie vor 1933. Doch angesichts dieses Zieles ist ihr Desinteresse am Staat heute ein Indikator dafür, daß unsere Politiker alles andere als gute Sachwalter des 20. Juli sind. Statt zu Staatsbürgern haben sie die Deutschen zu Konsumenten gemacht und statt unsere nationale Identität zu einer europäischen zu erweitern, betreiben sie mittels der EU Raubbau am Nationalstaat, sprich Abbau von Demokratie. Leider haben die Deutschen meist keine Vorstellung mehr vom religiösen Sinn ihres Lebens und ihren Pflichten gegenüber dem Staat. Das erscheint mir sehr gefährlich.

Warum haben sich die Männer des 20. Juli verpflichtet gefühlt, gegen Hitler zu handeln?

Boeselager: Weil sie Deutschland liebten, Patrioten waren und die Verbrechen stoppen wollten.

Der Generalinspekteur a.D. Klaus Naumann gab im JF-Interview zu, daß es dem zeitgenössischen Gedenken an den 20. Juli vor allem um das Motiv „Aufstand des Gewissens“, nicht aber „Rettung des Reiches“ geht. Ist das zu trennen?

Boeselager: Nein, das kann man nicht. Es ging entscheidend um die Rettung des Reiches – und zwar nicht des kleindeutschen Reiches von 1937, sondern des Großdeutschen Reiches mit Österreich, dem Sudetenland, dem Memelland, also Deutschland in den Grenzen von 1938.

Ihr Großvater riet Ihnen 1936: „Es gibt Krieg, werde Soldat!“ Warum nicht das Gegenteil?

Boeselager: Das kam nicht in Frage. Denn war das Vaterland in Gefahr, dann hatten die Boeselagers ihre Pflicht zu erfüllen. Ganz klar!





Carl Szokoll (1915–2004) war Stauffenbergs „Mann in Wien“, wo es dem späteren Major a.D. am 20. Juli 1944 gelang, NSDAP und SS zu verhaften und bis zum Zusammenbruch der Erhebung in Berlin die Macht zu übernehmen. (JF 30/2001)

Welchen Eindruck hatten Sie von Stauffenberg?

Carl Szokoll: Als ich ihm zum ersten Mal gegenüberstand, dachte ich mir: So müssen sie ausgesehen haben, die Schillschen Offiziere, die Preußens Ehre gegen Napoleon retten wollten. Zwar war sein linkes Auge, das er in Afrika verloren hatte, von einer schwarzen Binde verdeckt, aber das rechte, über das hin und wieder die dichten schwarzen Locken fielen, blickte dafür um so zuversichtlicher, strahlend, lachend, mit einer inneren Gelöstheit, wie sie nur Soldaten haben. 

Warum sind Sie Gegner Hitlers geworden?

Szokoll: Ich bin in der Theresianischen Militärakademie in der Tradition des tausendjährigen Österreichs zum Soldaten ausgebildet und nach 1938 in die neue deutsche Wehrmacht übernommen worden. Es hat mich zutiefst erschüttert, wie nach der Machtübernahme Hitlers auch in Österreich Menschen, die dem Nationalsozialismus nicht paßten, sogar alte Männer mit weißen Bärten und schwangere Frauen, mit Zahnbürsten unter dem Gejohle der Menge das Straßenpflaster putzen mußten. Ich wurde Soldat, weil ich glaubte, es sei die Aufgabe des Soldaten, Männer, Frauen und das Land zu beschützen. Leider hat der damalige Bundeskanzler Österreichs den Schutz unseres Landes nur dem lieben Gott überlassen.

Aber zentrales Motiv der Männer des 20. Juli, besonders Stauffenbergs, war es, das Reich – zu dem auch Österreich gehörte – zu retten.

Szokoll: Ich war als Offizier in der österreichischen Tradition 1938 natürlich gegen den Anschluß, aber meine Beurteilung des „Walküre“-Vorhabens war 1944 keine politische, sondern eine rein militärische, nämlich: der Sturz des Nationalsozialismus. Unser Ziel war es, einen ehrenhaften Frieden für Deutschland zu erreichen. Aber zur Leitlinie wurde schließlich das berühmt gewordene Diktum des Oberst von Tresckow: Das Attentat müsse gelingen – sollte es aber nicht gelingen, so müsse trotzdem gehandelt werden. 

Wie konnten Sie bei Ihrer bedeutenden Stellung für den 20. Juli der Rache Hitlers entkommen?

Szokoll: Ich hatte das riesengroße Glück, von niemandem verraten worden zu sein. Unsere Vorsichtsmaßnahmen bei der Konspiration waren so gut, daß keine Spur zu mir führte. Ich war damals Hauptmann und bin dann nach dem Attentat sogar zum Major befördert worden, während man die anderen gehängt hatte. Meine Kameraden sind schweigend in den Tod gegangen, denn ein Wort von ihnen, und auch mein Leben wäre verwirkt gewesen. 

Kann man heute dem 20. Juli Vorwürfe machen?

Szokoll: (...) Wenn heute dem 20. Juli der konservative, nationale und patriotische Beweggrund vorgeworfen wird, so halte ich das für ein politisches Schlagwort, das nichts mit dem 20. Juli zu tun hat, sondern lediglich Ausdruck der politischen Gesinnung solcher Leute ist. Wenn etwa von jungen Menschen solche Vorwürfe gemacht werden, dann ist das eher Folge gewisser linker Gesinnung und des mangelnden Wissens darum, wie es damals tatsächlich war.





Hans Hirzel (1924–2006), der Schüler war ein Bekannter der Geschwister Scholl und Aktivist der Widerstandsgruppe Weiße Rose. (JF 09/2003)

Wie sind Sie zur „Weißen Rose“ gekommen?

Hans Hirzel: 1942 wurde für mich deutlich, daß Deutschland durch Hitler in eine Situation gebracht worden war, die absehbar in einer Katastrophe münden würde, sowie daß Hitlers Ostkrieg ein Raubkrieg war. Man mußte nur eins und eins zusammenzählen, wenn etwa die Berufsberatung als Berufsziel „Wehrbauer im Osten“ empfahl, außerdem konnte man das aus der nach Osten gerichteten Untermenschenpropaganda ableiten. Dazu kam die öffentliche Ächtung der Juden. Ich war kein Philosemit und räumte ein, daß es im Zusammenhang mit jüdischen Aktivitäten Mißstände gegeben haben mochte – aber ein ganzes Volk zu diffamieren, empfand ich als nicht hinnehmbar. Man kann so mit Menschen nicht umgehen. Und mit Blick auf heute füge ich hinzu: auch nicht mit dem eigenen Volk. Tut man es doch, ruiniert man die eigene Gemeinschaft.

Also war Ihr Widerstand patriotisch?

Hirzel: Er war ausgesprochen patriotisch. Über meine Motive habe ich schon gesprochen, denken Sie aber auch etwa an den vorletzten Brief Willi Grafs, in dem er von seiner „Liebe zu Deutschland“ sprach. Oder Professor Kurt Huber, der seinen letzten Schluck Wein vor der Hinrichtung ausdrücklich auf das „Wohl seines geliebten Vaterlandes“ trank und seiner Frau schrieb, „freue Dich, daß ich fürs Vaterland sterben darf“. Sophie sprach vor Gericht davon, daß sie das Beste „für ihr Volk“ getan habe. Nur bei Hans ist mir kein solcher Bezug bekannt. Richard Hanser veröffentlichte in den USA ein Buch über die „Weiße Rose“, mit dem Titel „Deutschland zuliebe“. Er konnte das schreiben, weil er Amerikaner war, von deutscher Seite gibt es dagegen kein solches Buch. 

Was haben Sie und Ihre Schwester Susanne für die „Weiße Rose“ getan?

Hirzel: Wir haben etwa Flugblätter verteilt, versucht, neue Mitglieder zu werben. An der Konzeption der Flugblätter war ich aber nicht beteiligt. Zwar habe ich versucht, hier und da Einfluß zu nehmen, aber ohne Erfolg, später, vor Gericht, gereichte mir das zum Vorteil.

1943 wurden Sie zu fünf Jahren Haft verurteilt.

Hirzel: Mein vom Volksgerichtshof bestellter Verteidiger gab meine Schwester und mir die Gelegenheit, die für Susanne entscheidende Deckungsaussage noch einmal mit mir abzusprechen, und er belog zu unseren Gunsten die Aufsichtsbeamten. Ich hatte damit gerechnet, zum Tod verurteilt zu werden. Weshalb dies nicht geschah und das Gericht sogar weit unter dem Antrag der Staatsanwaltschaft blieb, ist mir bis heute nicht ganz klar. (...) Das mir von Gerichtspräsident Roland Freisler zugeworfene „Rettungsseil“, eine unterstellte Liebelei mit Sophie Scholl, habe ich jedenfalls nicht ergriffen und diese Darstellung abgelehnt. Ich hatte inzwischen genug von der Verhandlung, genug von den Lügen, ich fühlte mich nur noch angeekelt. Mein Verteidiger, der noch viele weitere Volksgerichtshofs-Verhandlungen mitgemacht hat, versicherte mir später, daß es kein Richter außer Freisler gewagt hätte, uns nicht allesamt zum Tod zu verurteilen. Also gereichte überraschenderweise gerade die Verhandlungsführung durch NS-Kronjurist Roland Freisler manchen der Angeklagten zum Vorteil.





Susanne Zeller-Hirzel (1921–2012), die Schülerin war eine frühe, enge Freundin Sophie Scholls und Aktivistin der Weißen Rose. (JF 09/2002)

Wie haben Sie Sophie Scholl kennengelernt?

Susanne Zeller-Hirzel: Die Jahre bis 1935 habe ich als sehr schöne Zeit in Erinnerung...

„Schön“? Die NS-Zeit wird heute stets als eine durch und durch finstere Epoche dargestellt.

Zeller: Ich weiß, aber so war es eben nicht. Wir alle, Hans Scholl, Sophie Scholl, ihre Schwe-ster Inge Scholl und ich, verlebten zunächst eine glückliche Zeit bei der Hitlerjugend. 1934 waren 3,3 Millionen junge Menschen bei der HJ, freiwillig und ohne Druck, denn erst Ende 1936 wurde der Beitritt obligatorisch. Es wehte dort der frische Wind des Aufbruchs. Je mehr sich die Bewegung allerdings etablierte, um so mehr kamen fragwürdige Elemente nach oben: Der Bettelmann kam aufs Roß.

Waren Inge, Sophie und Sie freiwillig in der Hitlerjugend?

Zeller: Absolut, alle fünf Kinder der Familie Scholl traten 1933/34 freiwillig ein.

Aus Begeisterung für den Nationalsozialismus?

Zeller: Nein, aus Liebe zur Heimat, aus Begeisterung für die Natur und das natürliche Leben und wegen der Gemeinschaft der Jugendlichen dort. Aber wir wurden indoktriniert: es gäbe minderwertige und hochwertige Menschen, daß der Stärkere den Schwächeren besiege sei ganz natürlich. Das hat uns nicht gefallen, denn wir wußten aus unserem christlichen Glauben, daß vor Gott alle Menschen gleich sind.

Worum ging es bei der Weißen Rose?

Zeller: (...) Wir wollten klarmachen, daß Hitler und Deutschland zwei verschiedene Dinge sind.

Sah das Sophie auch so?

Zeller: (...) Natürlich, Deutschland war ihr wichtig. Es wäre ihr niemals in den Sinn gekommen, es zu hassen. Im Gestapo-Verhör wurde sie gefragt, ob sie wieder so handeln würde: „Ja, weil ich es für das Richtige für mein Volk halte.“





Freya von Moltke (1911–2010), die Ehefrau Helmuth James Graf von Moltkes gehörte zur Widerstandsgruppe Kreisauer Kreis. (JF 30-31/1994)

Ist der Widerstand wichtig? 

Freya von Moltke: (...) Der Widerstand gibt uns Deutschen die Möglichkeit, uns am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Wer geschichtlich denken will, muß begreifen, daß die Generationen aneinanderhängen. Die Frauen und Männer des Widerstands gaben durch ihr Beispiel den nachfolgenden Generationen die Chance, mit der Last des Dritten Reiches anders umzugehen (...)

Stimmt unsere demokratische Entwicklung Sie nicht pessimistisch? Gibt es nicht einen Totalitarismus der großen Parteien?

Moltke: (...) Zu einer funktionierenden Demokratie gehört das Spektrum von rechts bis links. Man darf nicht nur die Rechten oder die Linken haben. Wir brauchen alle. Ich habe einen Freund, der sich politisch von ganz links nach rechts verändert hat. Allerdings müssen wir dafür sorgen, daß die Grenze zu den Demokratiefeinden nicht verwässert wird. Trotzdem gilt: Das Vermächtnis des Widerstandes ist auch Toleranz.





Konstanze von Schulthess (geboren 1945) ist die jüngste Tochter von Nina und Claus Stauffenberg. (JF 30/2015)

Eigentlich geben Sie und Ihre Brüder keine Interviews.

Konstanze von Schulthess: Nein, so ist das nicht. Wir geben keine Interviews zu meinem Vater. (...) Wir sprechen aber jetzt über meine Mutter und mein Buch über Sie.

Sie betonen darin, sie war kein „Dummchen“.

Schulthess: Meine Mutter war gleichberechtigte Partnerin meines Vaters. Sie wußte zwar keine Details, etwa, daß er die Bombe legen würde, unterstützte ihn aber voll. Der falsche Dummchen-Eindruck entstand auch, weil sich die Frauen des 20. Juli nach dessen Scheitern selbst als Heimchen am Herd darstellen mußten, um nicht als Mitwisserinnen hingerichtet zu werden. Dabei spielte es für die Männer des 20. Juli eine große Rolle, keine ahnungslosen, sondern Frauen zu haben, die sie moralisch unterstützten. Sonst hätten die meisten wohl nicht durchgehalten. Meine Mutter hat den Widerstand auch praktisch unterstützt, etwa indem sie für meinen Vater Papiere transportierte und sicherheitshalber verbrannte.

Die große 20. Juli-Verfilmung der ARD von 2004 enthält eine Szene, die sie sehr enttäuscht hat.

Schulthess: Meine Mutter wurde dort als Nörglerin dargestellt, die nicht hinter ihrem Mann steht. 

„Du bist mit mir verheiratet, nicht mit dem Reich. Es geht nur noch um Pflicht, Ehre und Moral, ich kann’s nicht mehr hören (...) Du bist genauso fanatisch wie die Nazis“, „nörgelt“ sie da unter anderem. 

Schulthess: Das hat sie sehr verletzt, denn das war das Gegenteil von dem, wie sie wirklich war.  

Für etliche war Patriotismus ein Antrieb. 

Schulthess: Das galt, glaube ich, für alle Widerständler. Patriotismus hat heute ja leider so ein Geschmäckle. Was ich persönlich sehr schade finde, denn eigentlich ist er doch eine schöne Sache. Und es ist ein großer Unterschied zwischen Patriotismus und Nationalismus.





Moritz Schwarz ist verantwortlicher Redakteur für die Seite „Im Gespräch“. Er ist 1971 in Heilbronn am Neckar geboren und arbeitet seit November 1999 für die JF.