© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/19 / 12. Juli 2019

Dem Staat bis heute fremd
Thorsten Hinz

Die Daten und Ereignisse der Zeitgeschichte, aus denen die Bundesrepublik ihre Sinnstiftung bezieht, sind gebrochen oder doppeldeutig: Der 8. Mai 1945 brachte das erlösende Kriegsende, doch er setzte auch den vorläufigen Schlußpunkt deutscher Staatsgewalt. Mit der Verabschiedung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 erhielt die Bundesrepublik ein Stück staatlicher Souveränität zurück, aber sie zementierte die Teilung Deutschlands. Der Aufstand gegen die SED-Diktatur am 17. Juni 1953 bekundete den deutschen Freiheitswillen – der sich an sowjetischen Panzern brach. Der Mauerbau am 13. August 1961 mitten durch die Hauptstadt war die exemplarische Selbstdemonstration nationaler Ohnmacht. Und sogar der Tag des Mauerfalls, der 9. November 1989, wird rückblickend durch die Erinnerung an das Judenpogrom 1938 eingetrübt.

Die tragischen Doppeldeutigkeiten sind im gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 bereits verdichtet oder vorweggenommen. So groß und gewaltig der Versuch war, den Diktator zu beseitigen und Deutschland vor der Totalzerstörung zu retten, so nachhaltig wirkte seine Vergeblichkeit. Auf dem Weg in den Abgrund gab es von nun an kein Halten mehr. Dem Höllenschlund mühsam entstiegen und auf schwankendem Boden sich bewegend, hielt die junge Bundesrepublik Ausschau nach tragfähigen Traditionsbeständen. 

Die Annäherung an den 20. Juli verlief zögerlich. Die Errichtung eines Denkmals für die Opfer des 20. Juli 1944 im Ehrenhof des Bendlerblocks in Berlin ging auf die Idee der Familienangehörigen zurück. Bei der Grundsteinlegung am 20. Juli 1952 hielt der Regierende Bürgermeister ­Ernst ­Reuter (SPD) die Gedenkrede. ­Reuter, der KZ-Haft und Exil durchlebt hatte, würdigte die „Männer, die das Beste für ihr Volk wollten, und die uns alle befreien wollten von der grausamen Tyrannei eines satanischen Regiments“.

Daraus leitete er den Auftrag ab, „unser Land seiner Einheit und seiner Freiheit wieder zuzuführen“. Zur Einweihung des Denkmals im Jahr darauf ergriff er nochmals das Wort und schlug einen Bogen zum Aufstand in der DDR, der nur einen Monat zurücklag. „Wir wissen, daß dieser 17. Juni wie einst der 20. Juli nur ein Anfang war.“ Aus beiden Ereignissen spräche „der feste Wille, nicht unterzugehen als Volk“. Mit dieser Interpretation fügte ­Reuter der patriotischen die antitotalitäre Deutung des 20. Juli hinzu.

1954, zum zehnten Jahrestag des Attentats, machte Bundespräsident ­Theodor ­Heuss, der die Rede übernahm, das Gedenken zur nationalen Angelegenheit. Er schilderte den 20. Juli als die höchstmögliche, durch Selbstopfer besiegelte Synthese aus Gesinnungs- und Verantwortungsethik, in der „das elementar Sittliche“ sich mit „rationalen Überlegungen“ verband. Im Handeln der Verschwörer sei „der reine Wille sichtbar (geworden), im Wissen um die Gefährdung des eigenen Lebens, den Staat der mörderischen Bosheit zu entreißen und, wenn es erreichbar, das Vaterland vor der Vernichtung zu retten“. Das war der rhetorische Rahmen, in dem sich auch die Reden der Folgejahre bewegten.

Diese Rhetorik war Ausdruck einer klaren Wertentscheidung. Sie erlaubte es ­Heuss bei der Gelegenheit sogar aus „Mein Kampf“ zu zitieren: „Wenn durch die Hilfsmittel der Regierungsgewalt ein Volkstum dem Untergang entgegengeführt wird, dann ist die Rebellion eines jeden Angehörigen eines solchen Volkes nicht nur Recht, sondern Pflicht. Menschenrecht bricht Staatsrecht!“

Dem Bundespräsidenten ging es beim Hitler-Zitat um keinen vordergründigen Verblüffungseffekt, vielmehr wollte er diejenigen nachdenklich stimmen, die anderer Meinung waren einschließlich der NS-Nostalgiker, die es zuhauf gab. Der 20. Juli war noch längst kein populäres Datum. Umfragen des Allensbach-Instituts ergaben, daß nur ein Drittel der Deutschen mit den Verschwörern sympathisierte. Mindestens ebenso viele teilten die Position des Generalmajors ­Otto ­Ernst ­Remer, der 1944 an der Niederschlagung der Revolte in Berlin mitgewirkt hatte und die Frondeure weiterhin als „Hoch-“ und „Landesverräter“ titulierte. 

Das hatte ihm 1952 die Anklage des Generalstaatsanwalts ­Fritz ­Bauer und die Verurteilung durch das Oberlandesgericht Braunschweig eingebracht. Nach einem einwöchigen Prozeß bestätigte es den Widerstandskämpfern, „in nahezu vollständiger Geschlossenheit eben keine Landesverräter gewesen“ zu sein; sie hätten vielmehr „aus heißer Vaterlandsliebe und selbstlosen, bis hin zur bedenkenlosen Selbstaufopferung gehendem Verantwortungsbewußtsein gegenüber ihrem Volk“ gehandelt. 

Bis auf weiteres blieb das eine Minderheitenmeinung. Besonders groß war die Ablehnung unter Berufssoldaten, die bei der anstehenden Wiederbewaffnung dringend gebraucht wurden. Sie hielten den Bruch des militärischen Eides durch ­Stauffenberg, ­Tresckow und andere für unverzeihlich. Diese Haltung allein auf Verstocktheit zurückzuführen, wäre zu einfach. Dem Entschluß war auch bei den Verschwörern eine lange und qualvolle Gewissensprüfung vorausgegangen. Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges, der mitten durch Deutschland ging, war die Frage, ob man eine Verschwörung gegen die eigene Staatsführung und die Konspiration mit der Gegenseite als vorbildlich hervorheben dürfe, von unmittelbarer Brisanz.

Weder in Ost noch in West waren die Deutschen in der Erinnerungs- und Geschichtspolitik frei. Die Westalliierten hatten die Thematisierung des deutschen Widerstands zunächst unterbunden. Zum Beispiel war 1946 den Rundfunksendern in der US-Zone die Erinnerung an den 20. Juli untersagt worden. Statt eigener Traditionen sollte die Umerziehung die geistig-moralische Grundlage für das Nachkriegsdeutschland bilden. Die Heuss-Rede bedeutete also auch eine kleine geschichtspolitische Emanzipation nach außen. Ab 1963 wurden öffentliche Gebäude am 20. Juli bundesweit beflaggt, und die Bundespost brachte 1964 zum 20. Jahrestag eine Briefmarke in Umlauf. 

Während sich in der DDR der Widerstand auf die KPD konzentrierte und der 20. Juli als Versuch reaktionärer Kräfte, ihre Macht über die NS-Zeit hinaus zu retten, diffamiert wurde, nahm im Westen der 20. Juli eine vergleichbare Monopolstellung ein, wobei die Militärs und der preußische Adel im Mittelpunkt standen. Großen Einfluß hatte die aus Ostpreußen stammende Zeit-Journalistin und spätere Herausgeberin ­Marion Gräfin ­Dönhoff, die den 20. Juli zu „Preußens letztem Kapitel“ erklärte. Im Zuge der Studentenbewegung gerieten die Fokussierung auf den 20. Juli sowie die konservativen, nichtdemokratischen Planungen der Verschwörer zunehmend in die Kritik. Der linke, auch kommunistische Widerstand wurde stärker betont. Umgekehrt erlebte der 20. Juli in der DDR, wo Ende der Siebziger Jahre eine Preußen-Renaissance einsetzte, eine positive Neubewertung.

Der Regierende Bürgermeister von Berlin und spätere Bundespräsident ­Richard von ­Weizsäcker gab 1983 die Neugestaltung und thematische Erweiterung der 1967 eingerichteten Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Auftrag. Die 1989 eröffnete Ausstellung – die 2014 nochmals umgestaltet wurde – bildete einen geschichtspolitischen Konsens ab, der über die Wiedervereinigung hinaus gültig blieb. Die revoltierenden Militärs des 20. Juli wurden zu Vorläufern des bundesdeutschen „Staatsbürgers in Uniform“ erhoben. Unter Kanzler ­Gerhard ­Schröder, der sich als Repräsentant eines „selbstbewußten Landes“ verstand, legten 1999 erstmals Rekruten der Bundeswehr im Bendlerblock am 20. Juli das Feierliche Gelöbnis ab. Seit 2008 findet die Zeremonie auch vor dem Reichstagsgebäude statt. 

Doch parallel dazu machten sich starke Gegenbewegungen bemerkbar. Anläßlich der Gedenkfeiern zum 50. Jahrestag 1994 verunglimpften linke Gruppen die Männer des 20. Juli als „Nazis“. Die Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ brachte tote Frondeure als NS-Mittäter in Verruf. Die Forderungen, Kasernen umzubenennen, dauern an. Tatsächlich hat die aktuelle Verteidigungsministerin die Überprüfung von Namensgebern angeordnet, die der Wehrmacht angehörten.

Das jetzt auf neue Weise indifferente Verhältnis zum 20. Juli zeigte sich im Umgang mit dem 2009 uraufgeführten US-Film „Operation Walküre – Das Stauffenberg-Attentat“, in dem Hollywoodstar ­Tom ­Cruise die Hauptrolle des ­Stauffenberg spielte. Die global wirksamen Geschichtsbilder und Mythen werden heute größtenteils in Hollywood generiert. Der Film bot also eine Chance, das Zerrbild von Deutschland als Heimstatt von Nazis zu korrigieren. Doch statt mit Sympathie wurden die Dreharbeiten mit Häme, sachfremder Kritik – etwa an ­Tom ­Cruise’ Mitgliedschaft in der Scientology-Kirche – und kleinlichen Schikanen begleitet. Der Gedanke, das deutsche Schuld-Mantra könnte nachhaltig relativiert werden, sorgte für Angst vor dem Orientierungsverlust.

Im Tiefsten ist der 20. Juli diesem Staat bis heute fremd und steckt ihm wie ein quergestellter Knochen im Hals. Typisch für die allgemeine Haltung ist das gleichsam schuldbewußte Geständnis eines Geschichtsprofessors im Spiegel, „daß die Mitglieder des deutschen Widerstands keine Agenten einer Westorientierung und Liberalisierung waren, keine Verfassungspatrioten avant la lettre (…)“. Im Tonfall überlegener Ein- und Nachsicht konzediert er, „daß dies die Hochachtung vor ihrem persönlichen Mut und ihrer Opferbereitschaft (nicht) schmälern würde“. Doch das ist erstens ein ahistorisches Denken, das die Vergangenheit an – übrigens längst brüchig gewordenen – Maßstäben der Gegenwart mißt. Zugleich drückt sich darin ein naives Wohlgefühl aus, in der besten aller möglichen Welten zu leben. Aus dieser Sicht muß es in der Tat als eine Geistesverirrung erscheinen, daß die Männer des 20. Juli ein nachhitleristisches Deutschland wollten, das sich gerade nicht aus der totalen Niederlage und der Gnade oder Ungnade seiner Überwinder definierte. 

Hier liegt der hauptsächliche Grund, warum die offizielle Geschichtspolitik keinen sicheren Boden unter die Füße bekommt. In seinen Erinnerungen zitierte ­Richard von ­Weizsäcker aus einem Memorandum des britischen Außenministeriums vom 25. Juli 1944. Gestapo und SS, heißt es dort, leisteten „uns einen hoch einzuschätzenden Dienst durch die Beseitigung aller jener, die nach dem Krieg zweifellos als ‘gute Deutsche’ posiert hätten“. Die physische Auslöschung der deutschen Gegenelite, die, gestützt auf ihre Gegnerschaft zum Regime, einen nationalen Selbstbehauptungswillen jenseits von ­Hitler repräsentierten“, sei „zu unserem Vorteil“, denn „das Töten von Deutschen durch Deutsche wird uns künftig vor vielen Verlegenheiten bewahren“.

Wenn ­Ernst ­Reuter 1952 ausrief, Einheit und Freiheit für ganz Deutschland wären leichter zu erreichen, „wenn diese Männer nicht hätten sterben müssen, sondern wenn diese Männer am Leben geblieben wären“, verkannte er in fast rührender Weise die Interessenlage der anderen. Selbst im Fall ihrer Kenntnis hätte er nicht darüber sprechen dürfen, denn die Gegner waren jetzt Schutzmächte. ­Weizsäcker wiederum zitierte das Memorandum lediglich im englischen Original. Der britische Historiker ­Ian ­Kershaw hingegen konstatierte sachlich: „In letzter Konsequenz muß man die (Nachkriegs-) Bundesrepublik und das entstehende stabile – wenn auch geteilte – Europa als eine Folge des Scheiterns des Attentats auf ­Hitler ansehen. Wie tragisch auch immer dies Scheitern für die Beteiligten war.“

Anders gesagt: In Deutschlands endgültiger Höllenfahrt nach dem 20. Juli traf der letzte böse Wille ­Hitlers sich mit den Interessen der Alliierten und späteren Bündnispartner. Weil staatliche Geschichtspolitik nun mal die Aufgabe hat, die politische Gegenwart historisch zu legitimieren, kann sie am Ende gar nicht anders, als den ehemaligen Gegnern immer wieder zu bestätigen, wie recht sie mit ihrem Machtkalkül hatten, und gleichzeitig an der Spirale der eigenen Schuldneurose weiterzudrehen. Es wäre so falsch wie kontraproduktiv, auf diese Mystifikationen mit einer Idealisierung der Verschwörer zu antworten. Um die Bedeutung und Tragik des 20. Juli herauszuarbeiten, reicht es völlig aus darzustellen, was damals war – auf allen Seiten!






Thorsten Hinz, Jahrgang 1962, studierte in Leipzig Germanistik, war JF-Kulturredakteur und ist heute freier Publizist. 2004 erhielt er den Gerhard-Löwen­thal-Preis für Journalisten.