© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/19 / 12. Juli 2019

Der Einzelne für das Ganze
Dirk Glaser

Derzeit wünscht sich angeblich jeder zweite Wahlbürger Robert Habeck, den Co-Vorsitzenden der Grünen, als künftigen Bundeskanzler. Einen Politiker also, der bekennender Anti-Deutscher ist, der „Vaterlandsliebe stets zum Kotzen“ fand, der davon überzeugt ist, daß es „ein Volk nicht gibt“. Das diesjährige Gedenken an den Staatsstreich vom 20. Juli 1944 könnte also erinnerungspolitisch in keiner ungünstigeren, aber auch kontrastreicheren Atmosphäre stattfinden. 

Denn die in die Gestaltung des Gemeinwesens übersetzten Lebensideale der Generationen, die den Widerstand gegen die NS-Diktatur wagten und die den demokratischen Neuanfang im geteilten Deutschland schafften, scheinen sich heute, als Resultat linksgrüner „kultureller Hegemonie“, für das Gros ihrer Kinder und Enkel endgültig in Luft aufgelöst zu haben.

Die jüngste Biographie von Thomas Karlauf ist aus diesem, das geschichtliche Erbe ausschlagenden Furor gegen das Eigene entstanden, und sie nährt ihn, indem er Stauffenberg als eine Art Vorsitzenden der Potsdamer Fraktion des Nationalsozialismus präsentiert. So befestigt er das herrschende Narrativ, das keine fundamentalen weltanschaulich-politischen Gegensätze zwischen nationalkonservativem Widerstand und NS-Regime mehr anerkennen will. Womit der Weg frei ist, den Patriotismus zusammen mit dem „Faschismus“ in den Orkus des Vergessens zu befördern.  

Eine solche Auffassung stellt einen bemerkenswerten Bruch mit den Wertungen der älteren Forschung und vor allem mit denen der „klassischen“ Stauffenberg-Biographien von Christian Müller (1970) und Peter Hoffmann (1992) dar. Beide waren noch bemüht, plumpe Planierungen der Differenzen zwischen Nationalsozialismus und Konservatismus ebenso zu vermeiden wie die Denunziation der Kategorien Staat, Nation, Reich zu politischen „Phantasiewelten“ (Karlauf).

Vielmehr sahen sie den Lebensweg ihres Helden durch drei Mächte geprägt, die sie keinem moralischen Verdikt unterwarfen: die Herkunft aus dem schwäbischen Uradel als Quelle für Stauffenbergs Elitebewußtsein, das Weltbild der neuidealistischen Dichtung Stefan Georges und die Armee, die schwarz-rot-goldene Reichswehr, in die der 19jährige 1926 als Fähnrich eintrat. Alle drei Prägestätten vermittelten ihrem Zögling das strenge Ethos der Verantwortlichkeit des Einzelnen für das Ganze. Nur im Dienst für die Gemeinschaft erreicht das Individuum seine wesentliche Daseinsform. Dieses Ganze, und hierin folgte Stauffenberg seinem Lehrmeister, dem Zeitablehnungsgenie George, konnte aber in den 1920er Jahren der demokratische Staat von Weimar als Teil der vom Geist des Materialismus durchsetzten, den Menschen zum Rohstoff des Produktionsprozesses degradierenden bürgerlich-kapitalistischen Welt nicht sein.

Bei Müller und Hoffmann ist nachzulesen, wie der mehr zur „Opposition conservatrice“, so die Formel des George-Exegeten Claude David, als zur „Konservativen Revolution“ zu zählende junge Kavallerieoffizier aus kulturkritischer Di-stanz zur Massendemokratie, Sympathien für die NS-Bewegung entwickelte, die, wegen der fast nahtlosen Übereinstimmung mit der scheinbar nur auf die Revision des Versailler Friedensdiktats zielenden Außenpolitik Adolf Hitlers, noch bis 1941 nicht ganz aufgebraucht waren. Beide Biographien schildern aber auch im Detail, wie die elitären nationalkonservativen Hoffnungen auf eine „Neuschöpfung des Ganzen“ (Rudolf Fahrner) seit 1933 allmählich enttäuscht wurden, weil der Nationalsozialismus, wie George prophezeite, die geistferne „Nutz- und Betriebssucht“ des in den USA wie in der UdSSR  triumphierenden Regimes der „Machenschaften“ (Martin Heidegger) nicht beseitigte, sondern perfektionierte.

Wie verhängnisvoll sich die materialistische NS-Ideologie und die Gegenauslese der braunen „Elite“ dann während des Zweiten Weltkrieges auswirkten, erfuhr Stauffenberg erst ab Juni 1940, im Maschinenraum der Militärmacht des Reiches, als Major und Oberstleutnant in der Organisationsabteilung im Oberkommando des Heeres (OKH). Dort profilierte er sich schon vor dem Untergang der 6. Armee im Kessel von Stalingrad  (1942/43) als Zentralgestalt der Militäropposition. Als Mann der Tat und treibende Kraft, der gegen alle christlich-moralisch-juristisch (Fünftes Gebot, Eid) verbrämte Bedenkenträgerei die Tötung Hitlers als alternativlos empfahl, um die Niederlage und die Zerstörung des für den Katholiken Stauffenberg unverändert „Heiligen“ Deutschen Reiches abzuwenden.

Nicht zu den geringen Verdiensten Müllers und Hoffmanns gehört die akribische Rekon­struktion des zum Tötungsentschluß führenden Lernprozesses, den Stauffenberg im OKH durchläuft, wobei sie die Bedeutung des Katalysators, der seinen deprimierenden Erfahrungen mit dem Aufbau einer „Russischen Befreiungsarmee“  zukommt, zu Recht stark hervorheben. Bei ihnen nimmt daher das Drama um den im Juli 1942 im Wolchow-Kessel in deutsche Gefangenschaft geratenen sowjetrussischen General Andrej A. ­Wlassow (1900–1946), breiten Raum ein. Bei ­Karlauf fehlt der Name Wlassow, obwohl eingeräumt wird, die Aushebung von „Hilfswilligen“ unter den gefangenen Rotarmisten sei es gewesen, was den amtlich dafür zuständigen Stauffenberg 1942 „am meisten beschäftigt“ habe. Trotzdem meint Karlauf, dieses Tun ignorieren zu dürfen, weil „der Gedanke, die einheimische Bevölkerung für den Kampf gegen Stalin zu mobilisieren“ weder „verdeckte Opposition gegen Hitlers Kriegführung“ noch gar „Ausdruck besonderer germanischer Humanität“ gewesen sei.

Gründlicher kann man den Ausgangspunkt für Stauffenbergs „langen Weg zum 20. Juli“ ­(Joachim Fest) nicht verfehlen. Wurde der schon bei Beginn des „Unternehmens Barbarossa“ mit der Bearbeitung aller die sowjetrussischen Freiwilligen betreffenden Fragen beauftragte Offizier dadurch doch regelrecht „hineingerissen in das Chaos der deutschen Besatzungspolitik“ (Christian Müller). 

Stauffenberg förderte den Kreis jener baltendeutschen Offiziere, die den charismatischen General Wlassow bewogen, sich an die Spitze einer „Befreiungsarmee“ zu stellen. Die Friktionen, die diesem „Rußlandkomplex“ entsprangen, trugen wesentlich dazu bei, daß Stauffenberg das nihilistische Wesen des Hitlerismus begriff, dem die eignen Ideale und Werte diametral entgegenstanden. Die zahlreichen Rückschläge bei dem achtzehn Monate währenden, mit der Versetzung zum ­Afrika­korps im Februar 1943 für ihn endenden Versuch, dem deutschen Ostheer eine halbe Million russische Waffengefährten zuzuführen, öffneten ihm die Augen über den wahren Charakter des NS-Regimes und seines Krieges. In Hitlers Weigerung, zusammen mit den als „Untermenschen“ stigmatisierten Russen und Ukrainern den Krieg gegen Stalin zu gewinnen, trat für ihn unverhüllt zutage, daß es dem Diktator nicht um die Befreiung Rußlands vom Bolschewismus und nicht um eine gerechte Neuordnung Europas ging, sondern um einen imperialistischen Eroberungsfeldzug, der die Lebensinteressen von Volk und Nation opferte, um vor dem „monströsen Panorama eines Weltrettungsauftrags“ (Joachim Fest) eine irrationale Rassenideologie zu vollstrecken, die zwangsläufig in Völkermord umschlagen mußte.

Stauffenberg durchlief einen schmerzlichen Lernprozeß, um zu durchschauen, daß Hitler eine zutiefst destruktive Herrschaft des Unrechts errichtet hatte, in dem das eigene Volk nur Mittel zur Erreichung phantastischer, jedes menschliche Maß übersteigender Zwecke war. In Stauffenbergs Weltanschauung rangierte das deutsche Volk hingegen selbstzweckhaft als Höchstwert. Daher erkannte er im Entscheidungsjahr 1942 den Nationalsozialismus endlich als Hauptfeind der Nation. Sein Entschluß, deren „materielle und blutmäßige Substanz zu erhalten“, führte im Oktober 1942 notwendig zur Einsicht, diese existentielle Feindschaft auszutragen und sich jeder Illusion, „den Führer zur Vernunft zu bekehren“ (Carl Goerdeler), zu entschlagen. Es gehe nicht darum, Hitler die Wahrheit zu sagen, sondern darum, ihn „umzubringen“. Nicht zuletzt der Völkermord an den Juden Europas wäre damit automatisch beendet gewesen.






Der Kunsthistoriker Dirk ­Glaser, Jahrgang 1963, ist als Archivar tätig.