© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/19 / 12. Juli 2019

Der letzte Akt der deutschen Gegenrevolution
Karlheinz Weißmann

Am 16. Juli 1982 stand in ­Johannes ­Gross’ Kolumne „Notizbuch“ folgende Bemerkung: „Die Linken legen heutzutage größten Wert darauf, daß es nicht nur konservativen, rechten Widerstand gegen ­Hitler gegeben habe. Mit Recht. Es hat linken Widerstand gegen ­Hitler gegeben, aber vornehmlich als Abwehr der Verfolgung, im Interesse einer Partei und unter dem Gesichtspunkt, daß die falsche Diktatur sich etablieren konnte, die von der Geschichtsphilosophie nicht vorgesehen war. Der moralisch begründete Widerstand gegen ­Hitler war in der Tat konservativen, aristokratischen Ursprungs: ein Aufstand für Freiheit und Anstand, das Recht des Privaten gegen die Volksgemeinschaft und ihre Brüderlichkeit.“

Die Bemerkung löste heftige Reaktionen aus. Die Linke verwahrte sich gegen die Geringschätzung ihres antifaschistischen Erbes, und die Mitte mochte zwar keine Zweifel an der Integrität der Opposition äußern, fragte aber hämisch, was denn dieser Widerstand an zukunftweisenden Ideen zu bieten hatte, bedachte man die notorisch antiwestliche, antipluralistische und irgendwie auch antidemokratische Haltung der Opposition.

Der Frontverlauf hat sich bis heute kaum verändert. Was vor allem daran liegt, daß der Widerstand gegen das NS-Regime einer der wenigen Bezugspunkte deutscher Erinnerungspolitik ist. Auf dessen Erbe will jede Gruppierung – mit Ausnahme der braunen Nostalgiker – Anspruch erheben. Das heißt, Bezugnahmen finden immer auch unter dem Gesichtspunkt der politischen Nützlichkeit statt. Dem ist faktisch nur zu begegnen, wenn man die Frage nach den Vorstellungen der Opposition möglichst sachlich zu klären sucht. 

Dabei ergibt sich im Hinblick auf die „Ideenkreise“ (­Hermann ­Heller), die den Widerstand bestimmten, daß der Liberalismus praktisch bedeutungslos war, der traditionelle Sozialismus eine untergeordnete Rolle spielte und der Kommunismus zwar Einfluß hatte, der aber durch Landesverrat und Sabotage kontaminiert war. Die große Mehrzahl der Widerstandskämpfer vertrat jedenfalls, wie ­Gross pointiert festgestellt hat, konservative Positionen. Nur darf man bezweifeln, daß dafür so abstrakte Vorstellungen wie „Freiheit“ und „Anstand“ oder „das Recht des Privaten gegen die Volksgemeinschaft und ihre Brüderlichkeit“ den Ausschlag gaben. Die Weltanschauungen der Opposition hatten im Regelfall eine konkretere Gestalt. 

Das galt schon für den Widerstand der ersten Stunde, der sich unmittelbar nach ­Hitlers Machtübernahme formierte. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang Einzelgänger wie ­Ewald von ­Kleist-Schmenzin, der seine Kontakte zu den Vertrauten ­Hindenburgs nutzen wollte, um ­Hitler abzusetzen, aber auch jener Zirkel, der in der Vizekanzlei Rückhalt fand. Dessen wichtigster Kopf war ­Edgar ­Julius ­Jung. ­Jung hatte seit dem Beginn der 1930er Jahre mehrere Versuche gemacht, der „nationalen“ durch eine „konservative Revolution“ zuvorzukommen. Nach dem Scheitern dieser Pläne verfaßte er als „Ghostwriter“ (­Armin ­Mohler) ­Franz von ­Papens die „Marburger Rede“, das erste Manifest des Widerstandes. In dem aufsehenerregenden Text ging es um eine scharfe Kritik des Totalitarismus, der allgemeinen Mißwirtschaft und die Verfolgung der Juden. Dagegen wurde die Wahrung des abendländischen Erbes, die Wiederherstellung des Rechtsstaates und die Beseitigung der Parteibuchprivilegien gesetzt.

­Hitler hat sehr genau gewußt, von wem das Manuskript der Marburger Rede stammte und ließ ­Jung am 30. Juni oder 1. Juli 1934 durch die SS liquidieren. Das geschah im Rahmen jener Aktion, die der angeblichen Niederschlagung des „Röhm-Putsches“ diente und die eben nicht nur die SA-Führung traf, sondern auch ­Hitlers Gegner auf der Rechten: die Generäle ­Kurt von ­Schleicher und ­Ferdinand von ­Bredow, den ehemaligen Generalstaatskommissar in Bayern ­Gustav von ­Kahr, der den Hitler-Ludendorff-Putsch vereitelt hatte, oder ­Herbert von ­Bose, einen engen Vertrauten ­Jungs.

Die Folge war eine sehr weitgehende Demoralisierung des Widerstands. Hinzu kam, daß in den Friedensjahren keine Aktion gegen das Regime Aussichten hatte. Die unbestreitbaren Erfolge ­Hitlers entzogen allen Versuchen einer Erhebung die Basis. Erst nach dem Übergang zu einer aggressiven Außenpolitik in den Jahren 1938/39 eröffneten sich wieder Handlungsmöglichkeiten. 

Im Zentrum der Planungen stand nun ­Ludwig ­Beck, der Generalstabschef des Heeres, der aus Protest gegen ­Hitlers Kriegskurs von seinem Amt zurücktrat. ­Beck hatte engen Kontakt zur zivilen Opposition, auch zu dem ehemaligen Leipziger Oberbürgermeister ­Carl ­Friedrich ­Goerdeler. ­Beck war wie ­Goerdeler in der wilhelminischen Zeit aufgewachsen, und beider Zielvorstellungen spei-sten sich aus dieser Erfahrung. Das heißt auch, daß die Vorstellung einer Restauration der Monarchie immer mit im Spiel war. Ähnliche Überzeugungen teilten viele der Älteren innerhalb der Opposition, die meinten, daß ­Hitler nur in Folge des verlorenen Krieges, des Zusammenbruchs und der strukturellen Schwäche der Republik hatte an die Macht kommen können.

Solche Erwägungen unterschieden die Älteren von denen, die zur „Kriegsjugendgeneration“ (­Ernst ­Günther ­Gründel) zählten. Darunter fand sich eine nicht so kleine Zahl ehemaliger Frontsoldaten und Freikorpsmänner, die während der zwanziger Jahre Kontakt zu den nationalrevolutionären Bünden gehabt hatten. Das Spektrum reichte von ausgesprochenen Nationalbolschewisten und Anhängern eines Soldatischen Nationalismus bis zu denjenigen, die vom Strasser-Flügel der Nationalsozialisten gekommen waren. Stellvertretend kann man ­Joseph ­„Beppo“ ­Römer, ­Friedrich-­Wilhelm ­Heinz und ­Fritz-­Dietlof von der ­Schulenburg nennen. 

­Römer war 1919 Führer des Freikorps Oberland gewesen. Er hatte den Sturm auf den Anna­berg kommandiert und sich mit seinen Leuten am Putsch vom 9. November 1923 beteiligt, war dann aber auf die Seite der KPD übergegangen. Zusammen mit ­Nikolaus von ­Halem, der aus dem Kreis um ­Ernst ­Niekisch kam, soll er bereits 1934 den Plan eines Attentats auf ­Hitler entwickelt haben.

­Heinz’ Lebenslauf ähnelte demjenigen ­Römers insofern, als auch er Offizier eines Freikorps gewesen war; als Kompaniechef der Brigade ­Ehrhardt nahm er am Kapp-Putsch teil. Er radikalisierte sich in der Folgezeit aber nicht in gleichem Maße wie ­Römer, sondern arbeitete als Funktionär des Stahlhelm. Erst unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise schloß sich ­Heinz der NSDAP und dort dem linken Flügel an. Er wurde deshalb aus der Partei ausgeschlossen, verfolgte nach ­Hitlers Sieg einen vorsichtigen Anpassungskurs, nahm aber die Entwicklung mit wachsender Besorgnis wahr. Während der Sudetenkrise stellte er einen Stoßtrupp aus ehemaligen Freikorpsangehörigen auf, die die Reichskanzlei stürmen, ­Hitler verhaften oder töten sollten. 

Zu diesem Zeitpunkt galt ein Mann wie ­Schulenburg zwar schon als politisch unzuverlässig, aber den Schritt in den Widerstand hatte er noch nicht vollzogen. ­Schulenburg war bereits im letzten Jahr der Republik der Partei beigetreten, sympathisierte auch mit den Brüdern ­Strasser, vertrat aber vor allem sehr eigene, wenn man so will preußisch-sozialistische Vorstellungen von der Reorganisation des Staates. Die gab er nach 1933 keineswegs auf. Vielmehr wollte ­Schulenburg das neue Deutschland unter die ebenso sachliche wie strenge Führung einer ordensartig zusammengeschlossenen Beamtenschaft stellen. Seine Pläne sahen auch Umgestaltungen der Eigentumsverhältnisse, Stärkung des Mittelstandes und der Bauernschaft vor, um zu einem „organischen“ Wiederaufbau der Gesellschaft zu kommen. Ideen, die seine Nähe zum Kreisauer Kreis um ­Helmuth ­James von ­Moltke erklären, der seinerseits eine gestufte Volksordnung entwarf, die in der Tradition der politischen Romantik stand.

Allerdings lehnte man in Kreisau jede praktische Beteiligung an einem Umsturz ab. Der erschien in der Anfangsphase des Zweiten Weltkriegs auch aussichtslos. Die überraschenden Siege der Wehrmacht sorgten noch einmal für eine denkbar breite Zustimmung in der Bevölkerung. Die Situation änderte sich erst ab 1942, als die bedrohlich werdende militärische Lage und das Auftreten jüngerer Offiziere der Widerstandsbewegung einen neuen Impuls gaben. 

Zu deren wichtigsten Köpfen zählten ­Claus von ­Stauffenberg und ­Henning von ­Tresckow. ­Tresckow hatte zwar schon als Leutnant in der preußischen Armee gedient, aber für ­Stauffenberg und die meisten seiner Freunde gehörte der Erste Weltkrieg nicht zu den ausschlaggebenden Erfahrungen. Ihre Schlüsselerlebnisse waren vielmehr die Jahre der Krise, die Schwäche der Demokratie und die Machtübernahme ­Hitlers. Ihre geistige Orientierung bestimmten Vorstellungen der Jungkonservativen, wie sie ­Moeller van den ­Bruck, ­Spengler und ­Jung entwickelt hatten. Hinzu kam selbstverständlich die adlige Herkunft, das Offiziersethos und ein davon bestimmtes Elitebewußtsein.

Im Fall ­Stauffenbergs spielte außerdem die Zugehörigkeit zum Kreis des Dichters ­Stefan ­George eine entscheidende Rolle. Sein aus ­Georges Vorstellungen gespeistes Verständnis der Zeit geht deutlich aus einem Brief hervor, den er vor Beginn des Frankreichfeldzugs geschrieben hatte, und in dem er davon sprach, daß nun „die Welt einer neuen Form entgegen“ gehe, die später einmal als das Ergebnis auch dieser Kämpfe und Kriege in erscheinung treten mag“. Dabei übersah ­Stauffenberg keineswegs das Gefährdete der deutschen Position, glaubte aber, daß „jede Auflockerung einer stagnation, der geistlosigkeit und des verranntseins … ein gewinn an sich“ sei, und: „Wir befinden uns wohl in den ersten Geburtswehen eines Neuen Reiches.“

Daß ­Stauffenberg diese Vorstellung eines „Neuen Reiches“ nicht einmal in vorletzter Stunde ganz aufzugeben bereit war, ist dem „Eid“ der Verschwörer des 20. Juli zu entnehmen, der bei allem Schwärmerischen im Tonfall doch die Umrisse einer neuen Ordnung erkennen ließ, die auf den europäischen Traditionen fußen und doch etwas Eigenes sein sollte: Bewahrung der wertvollen Überlieferungen des deutschen Volkes, gleich weit entfernt von der mörderischen Despotie ­Hitlers wie der Schwäche der Republik, eine Verfassung, die „alle Deutschen zu Trägern“ des Gemeinwesens machte, aber die „Gleichheitslüge“ verwarf, indem sie sich vor den „naturgegebenen Rängen“ beugte. 

Wenn ­Stauffenberg es deshalb vorgezogen hätte, daß für den Fall eines erfolgreichen Umsturzes der Sozialdemokrat ­Julius ­Leber an Stelle ­Goerdelers Reichskanzler geworden wäre, spricht das dafür, daß es hier keineswegs um die Wiederherstellung alter Vorrechte ging oder um politische Reaktion im platten Wortsinn, sondern um die Schaffung eines Staates, der den Idealen der preußischen Reformer nahekommen sollte. ­Stauffenberg bezog sich, wenn es um die Zukunft Deutschlands ging, oft auf seinen Vorfahren ­Gneisenau. Beider Gedankengänge waren darauf gerichtet, eine gute Verfassung zu gründen, in der „an die Spitze der Armeen Helden, an die ersten Stellen der Verwaltung Staatsmänner“ treten, jede Begabung ihren Platz erhielt, und das alles zu dem einen Zweck: die „ganze Nationalkraft“ zusammenzufassen.

Das Scheitern des 20. Juli hat alle entsprechenden Pläne obsolet werden lassen. Aber das spricht nicht gegen sie. Denn diese Erhebung war mehr als irgendein Putschversuch. Es ging um den letzten Akt der „deutschen Gegenrevolution“ (­Edgar ­Salin), die den Widerstand getragen hatte, und deren innere Einheit auch daran deutlich wird, daß sich in der Liste derer, die der Rache des Regimes zum Opfer fielen, fast alle Namen finden, die als bedeutende Repräsentanten der Opposition genannt wurden: von ­Kleist-­Schmenzin über ­Römer, ­Schulenburg, ­Moltke, ­Beck und ­Goerdeler bis zu ­Tresckow und ­Stauffenberg.






Dr. Karlheinz Weißmann, Jahrgang 1959, ist Historiker, Publizist und Buchautor. Er arbeitet im Höheren Schuldienst des Landes Nieder­sachsen.