© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/15 / 09. Oktober 2015

Die Berufung auf den großen Meister
Jan Stottmeister analysiert den Einfluß der Theosophie auf den Anhänger-Kreis um den Lyriker Stefan George
Karl-Heinz Schuck

Welche Zusammenhänge bestanden zwischen okkultistischen Weltanschauungen und dem Kreis um den Dichter Stefan George? Dieser Frage ist Jan Stottmeister in seinem Buch „Der George-Kreis und die Theosophie“ nachgegangen. In einem mit zahlreichen Fußnoten und einer umfangreichen Bibliographie versehenen Werk wird dem Leser die Entstehung und Ausbreitung der von Helena Blavatsky geleiteten Theosophischen Gesellschaft – sie sah einen Universalzusammenhang zwischen allen Religionen im Rahmen einer „Ur-Religion“ – erläutert, aus deren deutscher Sektion wiederum sich später Steiners Anthroposophische Gesellschaft entwickelte. Zu beiden okkultistischen Strömungen, die zur Zeit des Übergangs vom 19. ins 20. Jahrhundert reichlich Anhänger in der intellektuellen Elite fanden, hatten auch einige Jünger und Freunde Georges Kontakt. 

Insbesondere ist hier als überzeugter Theosoph sein künstlerischer „Zwillingsbruder“ Melchior Lechter zu nennen, der langjährige Gestalter seiner Bücher, der im Buch einen Dreh- und Angelpunkt der Untersuchung darstellt. Lechter hat in einem frühen Werk George bewußt mit der Theosophie verbunden, und sein theosophisches Interesse war zunächst auch akzeptiert. Stefan George selbst nahm in seinen lyrischen Motiven und seiner Selbstdarstellung offensichtliche Anleihen beim Okkultismus und der Theosophie, hatte er doch schon früh in Paris über den Kunstphilosophen Max Dessoir die Verbindung von Okkultismus, Symbolismus und Dichtung kennengelernt. Dieser führte ihn in die akademische Diskussion über Theosophie und Ästhetizismus als Teil einer Offensive gegen die Vorherrschaft der Naturwissenschaften ein.

Wurde George später „das Göttliche“ in der Poesie zugeschrieben und er in die Reihe der Heilsverkünder von Buddha bis Christus gestellt, so mußte dies gemäß Stottmeister zwangsläufig zur Abkehr von anderen Weltanschauungen führen. Der Lyriker nahm also eine deutliche Gegenposition zu allem organisierten Okkulten ein und bezog sich nun auf den Hellenismus. Über Platon wußte Stefan George das Diesseits und das Jenseits miteinander zu verbinden; er lehnte also das Übersinnliche und eine Hinwendung darauf nicht kategorisch ab, aber ohne Abweichung von den gegebenen Realitäten. 

Sich selbst im Besitz einer Geheimlehre annehmend, mußte er jedes okkultistische Interesse der Menschen in seinem Umfeld verachten und ließ so viele langjährige Beziehungen zerbrechen. Eine Reise Lechters zum Mittelpunkt der Theosophischen Gesellschaft in Indien und die Veröffentlichung seiner Reiseaufzeichnungen führten zum radikalen Bruch der Freundschaft. Georges Messiasprojekt „Maximin“ um den Knaben Maximilian Kronberger stand also zwingend konträr zu dem Messiasprojekt eines Weltlehrers in der Theosophischen Gesellschaft. Andere charismatische Leitfiguren standen ebenso unausweichlich in einer direkten Konkurrenz zu Stefan George, daher auch seine Verachtung für Blavatsky und ihre Nachfolgerin Annie Besant. Den George-Kreis als Männerbund sieht der Autor dabei als zwangsläufige Reaktion auf den hohen Frauenanteil in der Theosophie. 

Jan Stottmeisters Betrachtungen lassen den Schluß zu, daß viele sich ergebende Zerwürfnisse nicht ihren Anfang bei George selbst hatten, sondern von Mitgliedern des Kreises um ihn initiiert wurden.

Theosophie wurde später mit NS-Lehre assoziiert

Der Philosoph Ernst Bloch wiederum sah später eine deutliche Verbindung zwischen theosophischem Denken und dem poetischen Priestertum Stefan Georges. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Theosophie gerne, ebenso wie die Werke Georges, in die Ahnenreihe des Nationalsozialismus eingegliedert – womit sich schließlich beide auf der Anklagebank miteinander vereint finden konnten. 

Stottmeister gelingt in seinem in acht Kapitel gegliederten Werk eine nachvollziehbare Darstellung all dieser komplexen Sachverhalte und eine Vermittlung der Bedeutung des Okkultismus zur Zeit Georges. Ein tiefgehendes Verständnis für Theosophie bzw. Anthroposophie und deren Inhalte ist damit vielleicht noch nicht möglich, dem interessierten Leser sei hier weiterführende Literatur empfohlen; zum Verständnis wichtiger Zusammenhänge reichen die Darstellungen des Autors jedoch jederzeit aus.

Abgerundet wird das Werk durch einen umfangreichen Exkurs über die Bedeutung und Verwendung des Swastikazeichens in der Theosophie, die konträr zu jener im Nationalsozialismus stand und von dortiger Seite auch nicht erwünscht war.

Jan Stottmeister: Der George-Kreis und die Theosophie. Wallstein Verlag, Göttingen 2014, gebunden, 432 Seiten, 39,90 Euro