© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/12 07. September 2012

Warum Helmut Kohl die D-Mark preisgab
Der Sprung ins Dunkle
Thorsten Hinz

Bis in die Einzelheiten war die Euro-Katastrophe vorhergesagt worden. Es ist eingetroffen, was eintreffen mußte, nachdem Volkswirtschaften mit unterschiedlicher Leistungskraft in ein gemeinsames Währungskorsett gepreßt worden waren. Keiner der Beteiligten kann als Sieger oder Nutznießer der Entwicklung gelten: nicht Frankreich, nicht Deutschland, nicht die sogenannten PIGS-Staaten, nicht die Osteuropäer, die gleichfalls für den südeuropäischen Schlendrian bluten müssen.

Das Prestige der Europäischen Union ist weltweit gesunken. Warum bloß haben Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble & Co. die deutsche Währung und mit ihr den Stabilitätsanker für das vielbeschworene europäische Projekt so leichtfertig aufs Spiel gesetzt? Bis 1989 hatte in Deutschland die Krönungstheorie gegolten, die besagte, daß eine Gemeinschaftswährung erst am Ende einer langen Konvergenzphase stehen könne. In dieser Phase müßten die Leistungsbilanzen der Länder angenähert und eine politische Union mit Sanktions- und Durchgriffsrechten geschaffen werden. Die Währungsunion würde die neue Qualität zwischenstaatlicher Beziehungen schließlich krönen.

Mit dem Mauerfall und der Wiedervereinigung Deutschlands änderte sich die Reihenfolge schlagartig. Nun sollte die gemeinsame Währung den Motor für eine politische Union bilden. Der Euro, wurde behauptet, würde eine gewaltige Dynamik auslösen und die Annäherung der Staaten erzwingen und zwar weil die Alternative dazu unausdenkbar wäre. Man setzte also auf die Einsicht der Beteiligten, auf einen durch Vernunft vermittelten Sachzwang. Wirtschaftlich würde die Annäherung natürlich auf dem höchsten, dem deutschen Standard erfolgen und als Summe aus D-Mark, Franc, Drachme, Lira und so weiter sich eine „D-Mark Premium“ ergeben.

Gegen diese Wunderrechnung sprach nicht nur, daß das politisch-institutionelle Gegenstück zur Europäischen Zentralbank fehlte, sondern bereits das Schopenhauersche Entropie-Gesetz: „Wenn man einen Teelöffel Wein in ein Faß Jauche gibt, ist das Resultat Jauche. Wenn man einen Teelöffel Jauche in ein Faß Wein gibt, ist das Resultat ebenfalls Jauche.“ Und in der Tat: Das Unausdenkbare wurde Wirklichkeit! Der Grund dafür liegt auf der Hand: Die lateineuropäischen Staaten hatten Interesse daran, an der Stärke der D-Mark zu partizipieren, doch ihre politischen Interessen und Absichten standen konträr zu den deutschen.

Euro-Kritiker Thilo Sarrazin meint, daß die „Eitelkeit Frankreichs“ und „das unerklärliche Agieren Helmut Kohls 1990 bis 1992, der die Wirkungen einer gemeinsamen Währung überhaupt nicht überblickte, (...) uns den Euro beschert“ haben (FAZ vom 17. Mai 2012). Aber reicht das als Erklärung aus? Kohl war kein Wirtschafts- und Finanzgenie, aber der vollendete Idiot, der er hätte sein müssen, um für das Risiko blind zu sein, war er auch nicht. Sein französischer Widerpart François Mitterrand war eitel, aber vor allem war er ein historisch und kulturell hochgebildeter Realpolitiker. Welchem Gesetz also folgte ihr doppeltes Vabanquespiel?

Deutsche Politiker haben vehement bestritten, daß es ein Junktim gegeben habe zwischen dem deutschen Ja zum Euro und der französischen Zustimmung zur Wiedervereinigung. Das ist richtig, bedarf aber der Ergänzung. Zunächst einmal: Die Mittelmächte Frankreich und Großbritannien waren überhaupt nicht in der Lage, die deutsche Einheit zu verhindern, nachdem die USA und die Sowjetunion ihr Einverständnis signalisiert hatten. Außerdem gab es den Deutschlandvertrag von 1952, der die Westmächte verpflichtete, auf die Wiedervereinigung hinzuwirken. Hinzu kamen diverse Erklärungen der Nato und Europäischen Gemeinschaft (EG). Schließlich ging es 1989/90 auch um eine Wiedervereinigung Europas. Unter diesen Umständen die innerdeutsche Grenze künstlich aufrechtzuerhalten, war völlig unmöglich.

Niemand wußte das besser als Mitterrand. Als er am 4. Januar und am 15. Februar 1990 mit Helmut Kohl zusammentraf, erklärte er, Deutschland sei eine „historische Realität“, die Teilung ungerecht, er wolle sich dem „Strom der Geschichte“ nicht entgegenstellen. Theoretisch besäßen die vier Siegermächte zwar ein Mitspracherecht, jedoch nicht in der politischen Realität. Mitreden könnten sie aber hinsichtlich der internationalen Konsequenzen der Wiedervereinigung. Dabei dachte er an die Festlegung der Außengrenzen, aber auch an die Forcierung der Wirtschafts- und Währungsunion.

Während Mitterrand klare konzeptionelle Vorstellungen hatte, kehrte Kohl, statt eigene außenpolitische Ideen zu offerieren, die bundesdeutsche Selbstzerknirschung heraus. „Je mehr Rechte Deutschland an die EG übertrage, was im Gange und unser Ziel sei, desto weniger wirklich erscheine das Gespenst eines Vierten Reiches.“ Kohl hatte spürbar Furcht vor den äußeren Konsequenzen der Wiedervereinigung, die er anderseits als deutscher Patriot auf jeden Fall wollte! Mitterrand muß über Kohls treuherziges Bekenntnis hocherfreut gewesen sein, denn indem der Kanzler die Delegierung deutscher Gestaltungsmacht an die EG (EU) als sein innigstes Anliegen präsentierte – und ihr wirksamstes Instrument war nun mal die D-Mark –, nahm er Mitterrand die Sorge, daß Frankreich dafür einen angemessenen Preis entrichten müßte, etwa durch das Akzeptieren einer Institution, die eine Fiskalpolitik nach deutschem Muster in Europa durchsetzte. Die Euro-Katastrophe war zu diesem Zeitpunkt noch nicht unabwendbar, doch sie zeichnete sich bereits ab. Warum hat Kohl, der doch unbestritten über politischen Instinkt verfügte, sich so leicht ausmanövrieren lassen?

Sein Verhalten ist keineswegs unerklärlich. Dazu eine kurze Chronologie der Ereignisse: Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer und damit die Vorentscheidung über das Schicksal der DDR. Ministerpräsident Hans Modrow (SED) trat die Flucht nach vorn an und schlug in einer Regierungserklärung eine deutsch-deutsche Vertragsgemeinschaft vor. Am 28. November zog Kanzler Kohl mit einer Rede vor dem Bundestag die Initiative an sich. Er verkündete einen Zehn-Punkte-Plan, der die schrittweise Annäherung beider deutscher Staaten mit dem Ziel des staatlichen Zusammenschlusses vorsah. Obwohl er ausdrücklich die europäische Einbettung betonte, gingen bei den EG-Partnern die Alarmsirenen in Betrieb.

Als Außenminister Hans-Dietrich Genscher zwei Tage später, am 30. November, den französischen Präsidenten im Elysee-Palast aufsuchte, warnte der ihn unverblümt, Deutschland riskiere eine neue Triple-Entente aus Rußland, England und Frankreich, wenn es sich nicht bis Ende 1990 zu einer Wirtschafts- und Währungsunion bereit erkläre. Deutschland würde dann isoliert sein wie am Vorabend des Ersten und Zweiten (!) Weltkriegs. Die deutsche Frage drohte in der Form, die zwischen 1871 und 1945 akut gewesen war, mit voller Wucht zurückzukehren: Der deutsche Nationalstaat war zu groß gewesen, um sich in das europäische Gleichgewicht einzufügen, aber zu klein, um als Hegemon des Kontinents unbestreitbar zu sein. Seine natürliche Schwerkraft führte immerhin zu hegemonialen Tendenzen, mit der Folge, daß sich Koalitionen bildeten, die Deutschland in zwei Weltkriegen besiegten.

Und noch etwas geschah an diesem 30. November 1989: Der Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, fiel einem mit militärischer Präzision durchgeplanten Attentat zum Opfer. Der Anschlag wurde sogleich der RAF zugeschrieben, wofür bis heute keine Beweise vorliegen. Herrhausen war ein visionärer Kopf und in der Lage, politische und Wirtschaftsfragen in einen konzeptionellen Zusammenhang zu stellen. Zudem war er ein enger Berater Helmut Kohls. Bereits am 20. November 1989 hatte er sich in einem Spiegel-Interview engagiert für die Wiedervereinigung ausgesprochen.

Wie Gerhard Wisnewski in seinem Buch „Das RAF-Phantom“ schreibt, hatte er in einem Interview mit dem Wall Street Journal von seinen Plänen über den Wiederaufbau Mitteldeutschlands berichtet. In nur einem Jahrzehnt sollte Deutschland zur fortschrittlichsten Industrienation Europas werden. Ein ehemaliger Pentagon-Mitarbeiter sagte in den neunziger Jahren in einem Interview mit der italienischen Zeitung Unita, der Grund der Ermordung Herrhausens liege in einer Rede, die er eine Woche später am 4. Dezember in New York vor dem American Council on Germany halten wollte. Darin wollte Herrhausen seine Vision der Neugestaltung des Ost-West-Verhältnisses darlegen. Schon zuvor war er mit seinem Plan, der Dritten Welt einen Schuldenerlaß zu gewähren, in internationalen Finanzkreisen auf scharfen Widerspruch gestoßen.

Am 8. und 9. Dezember 1989 fand in Straßburg ein EG-Gipfeltreffen statt. Es war eines der – so Kohl in seinen Memoiren – „schicksalhaftesten Treffen“ überhaupt. Dem Kanzler schlug offene Feindschaft entgegen, und er mußte eine „tribunalartige Befragung“ über sich ergehen lassen. „Margaret Thatcher rief zornig: Zweimal haben wir die Deutschen geschlagen! Jetzt sind sie wieder da!“ Kohl verbittert: „Damit drückte sie genau das aus, was die allermeisten dachten.“ Er habe sich in den Wochen und Monaten gefragt, „ob man zwanzig Jahre umsonst miteinander gearbeitet hatte“. Denn: „Der Lack und die Tünche, die jahrzehntelang aufgetragen worden war, sprangen plötzlich auf und blätterten ab.“

Am 12. Dezember 1989 traf er in Berlin (West) mit US-Außenminister James Baker zusammen. Schnell kam die Rede auf die Besorgnisse der Europäer. Kohl sagte, er „habe durchaus Verständnis für die Haltung anderer europäischer Länder. Schon jetzt sei die Bundesrepublik wirtschaftlich Nummer eins in Europa. Wenn jetzt noch 17 Millionen Deutsche hinzukämen, sei das eben für manche ein Alptraum. Aber diese Deutschen gebe es nun einmal. Er frage sich, was er denn noch mehr tun könne, als beispielsweise die Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion mitzutragen. Diesen Entschluß habe er gegen deutsche Interessen getroffen“.

Die Formulierungen sind aufschlußreich: Mit den „17 Millionen“ griff Kohl den Clemenceau zugeschriebenen Ausspruch von Versailles auf, der Fehler der Deutschen sei es, daß es 20 Millionen zuviel von ihnen gebe. Im übrigen sprach Kohl im Jargon der klassischen Diplomatie. Die in der Bundesrepublik oft behauptete, quasi postnationale Qualität der Beziehungen zwischen den EG-Partnern, die deutsch-französische Freundschaft usw. stellten sich nun, da es zum Schwur kam, als Schönwetterveranstaltungen heraus. Wie einst Bismarck sah sich Kohl mit dem „Cauchemar des coalitions“ (Alptraum der Koalitionen) konfrontiert. Hieraus erklärt sich das panische Argument, mit dem er später alle Einsprüche gegen die Euro-Einführung niederwalzte: Die gemeinsame Währung sei eine Frage von Krieg oder Frieden!

Er fühlte sich nicht als Herr seiner Entschlüsse. In abgemilderter Qualität erinnert das an die Panik, die 1913/14 die politische Führung des Deutschen Kaiserreichs ergriff. Der „Alptraum der Koalitionen“ hatte sich zu einer veritablen Einkreisung ausgewachsen. Der letzte Ausweg war ein „Sprung ins Dunkle“: Ein militärischer Gewaltschlag, dessen Erfolgsaussichten höchst unsicher waren, sollte Deutschlands Erdrosselung durch Frankreich, England und Rußland verhindern. In der Tat hatte Deutschland fast ein militärisches Patt erzwungen, ehe im Frühjahr 1917 die USA in den Krieg eintraten und die Schale sich zugunsten der Entente neigte.

Natürlich war die Situation 1989 mit der von 1913 nicht identisch. Die Konstellation war in aller Kürze die: Frankreich konstatierte, daß die Bundesrepublik, die subjektiv der Machtpolitik entsagt und sich ganz auf die Ökonomie konzentriert hatte, mit ihrer gewaltigen wirtschaftlichen objektiv auch politische Macht generiert hatte. Natürlich war ihre Macht eingehegt und begrenzt, aber groß genug, um die schwächelnde Sowjetunion zu bewegen, ihre wichtigste Kriegsbeute, die DDR, zur Wiedervereinigung freizugeben und dafür die Unterstützung der USA zu erhalten. Denn es lag klar im amerikanischen Interesse, daß die westfixierte Bundesrepublik sich auf die DDR ausdehnte.

Die Franzosen indes waren in einem Spiegeldenken gefangen, das heißt, sie unterstellten den Deutschen die hegemonialen Absichten, die sie selber noch hegten und die sie in der Position der Bundesrepublik um so konsequenter verfolgt hätten. Frankreich dachte in den Kategorien einer intakten Nation, während Deutschland eine moralisch längst gebrochene Nation war. Anachronistisch waren die Befürchtungen der Franzosen noch in einem weiteren Sinn: Europa war nicht mehr das Zentrum der Welt, sondern eine fremdbestimmte globale Provinz, so daß ein europäischer Hegemon keine echte weltpolitische Relevanz besitzen konnte.

Aus nationalen und aus europäischen Gründen war es also nicht ganz falsch, daß Kohl die Aporien der deutschen Lage dadurch aufzulösen versuchte, daß er sich zum Transfer von Souveränitätsrechten an europäische Strukturen bereit erklärte. Es kam auf die Qualität dieser Strukturen an. Die von Frankreich angestrebte Lösung zielte auf die politische Neutralisierung Deutschlands und auf Verwirklichung des eigenen hegemonialen Anspruchs ab. Eine kluge und nervenstarke deutsche Außenpolitik hätte versucht, die Drohung mit einer neuen Triple-Entente zu unterlaufen, etwa mit Hilfe der USA, die dem wiedervereinten Deutschland tatsächlich eine „partnership in leadership“ anboten. Die europäische und französische Karte hätte man deswegen nicht aus der Hand zu legen brauchen.

Doch zu dieser Raffinesse war die deutsche Diplomatie nicht fähig. Von der Rückkehr der alten europäischen Staatenlogik überrascht, überfordert und verängstigt, flüchtete Kohl sich in ein Wunschdenken und nahm die europäische Gemeinsamkeit, die es erst herzustellen galt, als bereits gegeben an. Auf diesem Fehlschluß wurde die Währungsunion errichtet. Im EZB-Rat zählt die Stimme der Bank von Griechenland genausoviel wie die der Bundesbank. Es ist der helle Wahnsinn! Ein Wahnsinn, der Deutschland in genau die Isolation geführt hat, welche die Währungsunion verhindern sollte. Für die Europäer, die Amerikaner, Chinesen, Japaner, Russen, für den IWF und die Weltbank tragen die Deutschen die Schuld an der Schulden-, Banken- und Währungskrise. Die Einführung des Euro war der dritte Sprung ins Dunkle, den eine überforderte deutsche Staatsführung ihrem Volk im 20. Jahrhundert zugemutet hat – wieder mit katastrophalen Folgen. Am Ende stand zweimal die Kapitulation, heute steht sie am Anfang!

 

Thorsten Hinz, Jahrgang 1962, Germanist, war JF-Kulturredakteur und ist heute freier Autor. 2004 erhielt er den Gerhard-Löwenthal-Preis. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über den Kampf gegen Rechts („Der Feind in uns“, JF 18/11).

Foto: Verkalkuliert: Die Euro-Einführung basierte auch auf der Fehleinschätzung Kohls, in der Politik ginge die Freundschaft nationalen Interessen vor

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