© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/11 24. Juni 2011
Gefangen in der Wiki-Falle Welche Symptome hat das hämolytisch-urämische Syndrom? Was hat es mit dem Deutsch-Französischen Krieg auf sich? Und wo lebt eigentlich der Heidekraut-Wurzelbohrer? Auf der Suche nach diesen oder anderen Antworten greifen die meisten Deutschen heute nicht mehr zum Brockhaus, sondern zu Wikipedia. Das Internet macht es den Menschen einfacher als jemals zuvor, sich Informationen zu beschaffen. Wer bei Google heute nach Begriffen, Parteien, Personen oder Ereignissen sucht, landet meist sofort bei der Online-Enzyklopädie. Mehr als 725 Millionen Zugriffe registrierte allein die deutschsprachige Wikipedia im vergangenen Monat. Allen Unkenrufen zum Trotz steigt auch die Artikelanzahl weiter kontinuierlich an. Mit mehr als 1,25 Millionen Artikeln enthält die deutsche Version nicht nur ein fast unanfechtbares Wissensmonopol, es ist nach der englischen auch die zweitgrößte der Welt. Ihren Erfolg verdankt sie dabei vor allem dem Versprechen, wirklich jeder könne mittels interaktiver und kollaborativer Benutzerelemente an der Wissenssammlung mitarbeiten. Und tatsächlich findet sich über vielen Wikipedia-Artikeln ein „Bearbeiten“-Hinweis, der es jedem Internetnutzer ermöglicht, Texte zu ergänzen oder umzuformulieren. Hinter den Kulissen hat sich dabei allerdings in den vergangenen Jahren ein für den einfachen Leser kaum zu durchschauendes hochkomplexes System aus Machthierarchien und ausdifferenzierten Nutzerrechten entwickelt. Längst nicht alle „User“ sind mehr gleich. An der Spitze stehen die als „Admins“ bezeichneten Administratoren. Mit weitgehenden Sonderrechten, wie der Möglichkeit, Artikel für die weitere Benutzung zu sperren, andere Nutzer zu löschen, nehmen sie eine Schlüsselrolle im Wikipedia-Netzwerk ein. Etwa dreihundert gibt es davon in der deutschsprachigen Wikipedia. Admin kann nur werden, wer in einer offiziellen Wahl eine Mehrheit der abstimmenden stimmberechtigten Wikipedia-Nutzer hinter sich versammeln kann. Die meisten Administratoren sind bereits seit Jahren aktiv und haben sich in virtuellen Wahlkämpfen eine regelrechte Anhängerschaft geschaffen. Einmal gewählt, bleiben diese so lange im Amt, bis 25 Nutzer innerhalb von zwei Monaten oder 50 innerhalb von sechs Monaten einen Abwahlantrag stellen. Bleibt der erfolglos, behält der Admin mindestens ein weiteres Jahr seine Position. Die beabsichtigten demokratischen und qualitativen Selbstreinigungsprozesse der Administratorenschaft von politisch klar ideologisierten Nutzern schlagen angesichts starker Loyalitätsbindungen innerhalb der Nutzerschaft und einer sehr niedrigen Wahlbeteiligung regelmäßig fehl. Von den Zehntausenden stimmberechtigten Mitgliedern, die mindestens zwei Monate aktiv gewesen sein müssen und 200 Artikel editiert haben sollten, nehmen an den Wahlen meist nur die gleichen drei- bis vierhundert Nutzer teil. Entsprechend schwierig ist es für neu angemeldete Mitglieder, in den Administratorenstand zu kommen. Und wer es dann doch schafft, muß eine Menge Zeit aufwenden. Im Durchschnitt kommen die deutschen Administratoren auf mehr als zehn Editierungen am Tag, der Spitzenreiter gar auf 250. Für Menschen mit Vollbeschäftigung und Familie ist ein solches Pensum kaum zu schaffen. Neben den Administratoren existieren zahlreiche weitere Nutzergruppen. So gibt es die mit Verwaltungsaufgaben beschäftigten „Bürokraten“, ein spezielles aus zehn Mitgliedern bestehendes Schiedsgericht und sogenannte „Oversights“, die sonst für jedermann einsehbare, veraltete Artikelversionen dauerhaft verbergen können. Hinzu kommen etwa 10.000 „Sichter“, die Änderungen bei Artikeln überprüfen und die dann „gesichtete“ Version als aktuell einsehbare Version kennzeichnen. Ganz am Ende stehen die einfachen Nutzer, die, wenn sie sich nicht anmelden, bei jeder Editierung in Wikipedia für jeden einsehbar ihre IP-Adresse öffentlich machen müssen. Besonders das Regelwerk für Beiträge und Editierungen ist in den vergangenen Jahren dramatisch gewachsen. Wirkliche Transparenz, wer warum welche Regel eingeführt hat und nach welchen Maßstäben diese von den Administratoren durchgesetzt werden, gibt es nicht. Lieblingsbegründung allzu forscher Admins beim Löschen oder Sperren von Artikeln ist der „Vandalismus-Verdacht“. Dieser als „absichtliche Verfälschung von Informationen“ definierte Gummiparagraph kann praktisch auf jede Artikelveränderung angewandt werden. Wer als Nutzer nach der Löschung seiner Ergänzung oder seines Beitrages trotzdem nicht lockerläßt, wird zumeist in endlose Debatten und Löschdiskussionen verwickelt, in denen sich die meisten „User“ nach einiger Zeit gegenseitig vorwerfen, einen „Point of View“ (POV), also einen nicht objektiven eigenen Standpunkt zu vertreten. Eine neutrale Instanz gibt es nicht, und so setzt sich nicht immer der Klügere, sondern der Ausdauerndste und Stärkste durch. Nicht selten kommen bei solchen Endlosdebatten auch sogenannte „Sockenpuppen“ zum Einsatz. So werden unter verschiedenen Namen mehrfach angemeldete Nutzer bezeichnet, die versuchen, mit solchen Doppelaccounts die Regeln und die Löschdiskussionen in ihrem Sinne zu beeinflussen. Wer den Eindruck erweckt, er würde mit seiner Ansicht eine Mehrheitsmeinung vertreten, setzt sich am Ende zumeist auch durch. Die Wikipedia-Gemeinschaft hat diese Form der Diskussionskultur mittlerweise legalisiert. So sind doppelte Benutzerkonten erlaubt, wenn diese nicht an Wahlen teilnehmen oder zur Unterwanderung einer Diskussion genutzt werden. Eine Prüfung, ob diese halbherzigen Regeln auch durchgesetzt werden, gibt es nicht. Diese gefestigten, undurchsichtigen und frustrierenden Strukturen und die Tatsache, daß gerade Studenten mit einem Anteil von mehr als 25 Prozent an den aktiven Nutzern deutlich überrepräsentiert sind, hat zu einer politischen Selektion und zunehmenden Abschottung der Wikipedia-Gemeinschaft vom Rest der Gesellschaft geführt. Neumitgliedern wird es so fast unmöglich gemacht, sich in die Wikipedia-Parallelgesellschaft, mit eigenen Stammtischen, Sprachcodes und Nutzertreffen zu integrieren. Die Folge: Die Zahl der aktiven „User“ in Deutschland stagniert seit Jahren. Etwa siebentausend gibt es davon noch. Eine Entwicklung, die bei der deutschen Sektion der Betreiberorganisation Wikimedia aufmerksam registriert wird. Dort versucht man seit einiger Zeit verzweifelt, den Autorenstamm zu erweitern. Mit dem kostenintensiven „Projekt Silberwissen“ wirbt Wikimedia beispielsweise vor allem um ältere Autoren. Ein meßbarer Erfolg ist bisher trotz aller Bemühungen jedoch ausgeblieben. Ein typischer Wikipedia-Autor ist weiterhin männlich, zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt, verbringt ungesund viel Zeit vor dem Computer und entstammt einem eher linken politischen Milieu. Diese Autorenarmut und die Streuung der Interessengebiete führen zu einer paradoxen Situation. Trotz Millionen Artikeln, Editierungen, Beiträgen und Löschungen kommt es zu einer dramatischen Ausdünnung der aktiven Administratoren und Nutzer in vielen Themenfeldern. Was bei naturwissenschaftlichen Fragen kein Problem darstellt, führt gerade bei politischen Artikeln und Themen zu einer starken ideologischen Schlagseite. Wer sich einmal die Mühe macht, die diversen Wikipedia-Artikel über niederländische Parteien zu begutachten, wird erstaunt feststellen, daß die Partei für die Freiheit (PVV) des islamkritischen Politikers Geert Wilders die einzige ist, bei der es einen langen Absatz zum Thema „beschuldigte Abgeordnete“ gibt, in dem die Autoren über die angeblich kriminelle Vergangenheit einiger weniger Parlamentarier Auskunft zu geben versuchen. Bei anderen Parteien sucht der neutrale Leser nach einer derartigen „kritischen“ Auseinandersetzung vergebens. Die Intention ist klar. Wilders Partei soll in ein schlechtes Licht gerückt und unter einen kriminellen Generalverdacht gestellt werden. Wer nach ausgewogenen Informationen gesucht hat, wird so einer leisen Form der politischen Indoktrination ausgesetzt. Der Artikel zu Geert Wilders selbst ist mittlerweile, genauso wie der zum Zweiten Weltkrieg, für die weitere Bearbeitung von einem Administrator gesperrt worden. Dieses Vorgehen ist längst keine Ausnahme. Immer mehr Artikel sind entweder gar nicht oder nur noch eingeschränkt veränderbar. Viele andere Ergänzungen müssen von den „Sichtern“ vorher abgesegnet werden, bis sie zur als erstes angezeigten Standardversion werden und ihr Dasein nicht in den, für den normalen Leser kaum zugänglichen, Versionsarchiven fristen müssen. Der Frust entlädt sich in endlosen, als „Edit-Wars“ bezeichneten Benutzerkämpfen, bei denen die Autoren darum streiten, welche Version des Artikels bei Wikipedia implementiert wird, und sich dabei gegenseitig vorwerfen, einen parteiischen Standpunkt zu vertreten. Gewonnen hat dabei nicht derjenige mit den besseren Argumenten, sondern eben jener, der am Ende Unterstützung von einem Administrator bekommt. Von den Versprechungen des zur Interaktion einladenden „Web 2.0“ ist in dieser Form wenig übriggeblieben. |