© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/11 15. April 2011

Masseneinwanderung nach Frankreich
Pompidous Irrtum
Alain de Benoist

Kurz vor seinem Tod mußte Frankreichs ehemaliger Präsident Georges Pompidou (1911–1974) eingestehen, daß er einst allzu voreilig dem Drängen gewisser Großunternehmer nachgegeben und der Einwanderung die Schleusen geöffnet hatte. Jenen Wirtschaftsbossen war einzig daran gelegen, gefügige und billige Arbeitskräfte ins Land zu holen, Menschen ohne Klassenbewußtsein und Klassenkampftradition. Mittels Lohndumping hofften sie, Druck auf die französische Arbeiterbewegung ausüben und ihre Solidarität zerschlagen zu können. Sie „verlangten immer mehr“, so Pompidou reumütig im Rückblick.

 Heute, vierzig Jahre später, sieht es nicht viel anders aus. Die Arbeitgeber sind die einzigen, die sich noch erdreisten, die Forderung nach mehr Einwanderung aufzustellen. Der Unterschied zu früher besteht allenfalls darin, daß immer mehr Branchen betroffen sind, nicht nur klassische Niedriglohnsektoren wie die Industrie und Gastronomie, sondern auch technische Berufe, etwa Ingenieurwesen oder Informatik.

Die Masseneinwanderung nach Frankreich begann bereits im 19. Jahrhundert. 1876 lag die Zahl der Einwanderer bei 800.000, im Jahr 1911 waren es bereits 1,2 Millionen. Zunächst kamen sie vor allem aus Italien und Belgien, später wurden auch Polen, Spanier und Portugiesen angeworben. 1924 wurde auf Initiative des Verbandes der Bergwerksbesitzer und Landwirtschaftsbetriebe des Nordostens sogar eine Gesellschaft für Einwanderung (SGI) gegründet, die Anwerbungszentren in verschiedenen europäischen Ländern betrieb. 1931 lebten 2,7 Millionen Ausländer in Frankreich, 6,6 Prozent der Gesamtbevölkerung. Mit 515 Einwanderern pro 100.000 Einwohner war Frankreich damals weltweit Spitzenreiter. Für die Arbeitgeber war diese Reservearmee ein willkommenes Druckmittel, um Löhne niedrig zu halten.

 Nach dem Zweiten Weltkrieg begann die Masseneinwanderung aus den Maghreb-Staaten: erst Algerien, dann auch Marokko. Die Großkonzerne – allen voran die Automobil- und die Bauindustrie holten sie mit Lastwagen nach Frankreich. Fast zwei Millionen kamen zwischen 1962 und 1974, 550.000 davon von der staatlich betriebenen, aber von der Wirtschaft kontrollierten Einwanderungsbehörde (ONI) angeworben. In den Folgejahrzehnten verstärkte sich der Trend stetig.

„Wenn in einem Sektor ein Mangel an Arbeitskräften herrscht“, erläutert François-Laurent Balssa in einem aktuellen Aufsatz zum Thema, „hat ein Arbeitgeber die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: Entweder man erhöht die Löhne oder man wirbt Arbeitskräfte im Ausland an. In der Regel hat der französische Arbeitgeberverband (CNPF) bzw. ab 1998 seine Nachfolgeorganisation Medef die zweite Option bevorzugt.“

Diese Entscheidung ist Ausdruck des Wunsches nach schnellem Profit, der aber auf Kosten einer Verbesserung der Produktionsmethoden und auf Kosten der Innovation im industriellen Gewerbe ging. Wie andererseits das Beispiel Japans zeigt, führte eine Entscheidung gegen Einwanderung und für die Stärkung des autochthonen Arbeitsmarktes dazu, daß das Land seine technologische Revolution früher vollzogen hat als die meisten seiner westlichen Konkurrenten.

Die Einwanderung ist also seit jeher von den Bedürfnissen der Wirtschaft gesteuert. Sie entspricht dem Geist des Kapitalismus, der am liebsten sämtliche Grenzen abschaffen würde. „Unter den Illegalen, Geringqualifizierten hat sich ein Markt für Billigstarbeitskräfte gebildet“, so Balssa, „während  Großunternehmer und Linke Hand in Hand arbeiten – die einen an der Abschaffung des Sozialstaats, der ihnen zu teuer, die anderen an der Abschaffung des Nationalstaats, der ihnen zu archaisch ist.“ Eben deswegen, nämlich im Namen der Interessen der französischen Arbeiterklasse, haben die Kommunistische Partei und der Gewerkschaftsbund (CGT) – der mittlerweile seine Linie radikal geändert hat – bis 1981 die liberale Forderung nach allgemeiner Freizügigkeit bekämpft.

„Freizügigkeit für Menschen, aber auch für Kapital- und Warenströme – so lautet die Doktrin der Europäischen Kommission. Ja, besser noch: Freizügigkeit für Menschen, damit sich mehr Profit aus den Kapital- und Warenströmen schlagen läßt“, schreibt Eric Zemmour (JF 18/10) und erinnert daran, daß „die Einwanderungsströme der vergangenen zwanzig Jahre maßgeblich zu einem Wirtschaftswachstum ohne Inflation beigetragen hat, weil dieser ständige Zufluß von Billigarbeitern wie eine Bleiplatte in den westlichen Ländern die Löhne nach unten gedrückt hat.“

Ein Bericht des Rats für Wirtschaftsanalyse (CAE) mit dem Titel „Einwanderung, Qualifizierung und Arbeitsmarkt“ beginnt mit der Feststellung, daß das Argument des Arbeitskräftemangels, das  traditionell zur Begründung einer angeblich notwendigen Einwanderung herangezogen wird, in Zeiten der Arbeitslosigkeit praktisch bedeutungslos ist. „Aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht gibt es keinerlei Anzeichen für einen Mangel“, steht dort schwarz auf weiß, denn „der Umstand, daß manche Einheimische nicht gewillt sind, bestimmte Stellen anzunehmen, kann einfach bedeuten, daß sie bessere Möglichkeiten haben, und dies bedeutet wiederum, daß die entsprechenden Gehälter angehoben werden müssen, um solche Stellen zu besetzen“.

Daraus geht sehr deutlich hervor, daß Arbeitskräftemangel nur entsteht, wenn in einem Sektor zu niedrige Löhne angeboten werden – und daß somit die Einwanderung als probates Mittel dient, um eine Erhöhung der Löhne zu vermeiden. Man erzeugt also künstlich einen „Mangel“, der dann behoben wird, indem man Arbeitskräfte sucht, die bereit sind, für Niedriglöhne zu arbeiten. Der Bericht kommt zu dem Schluß, daß man „anstelle der Einwanderung der 1960er Jahre eine Erhöhung der Löhne für Geringqualifizierte hätte in Erwägung ziehen müssen“.

Überdies dokumentieren die Autoren die Ergebnisse einer Reihe von Studien, in denen der Versuch unternommen wurde, die Auswirkungen der Einwanderung auf die Lohnentwicklung zu berechnen: „Altonji und Card ermittelten, daß die Löhne um 1,2 Prozent sinken, wenn sich der Anteil der Zuwanderer an der Gesamtbevölkerung um einen Prozentpunkt erhöht. (...) Boris kommt zu dem Schluß, daß die Zuwanderung zwischen 1980 und 2000 das Angebot an Arbeitskräften um rund elf Prozent erhöht habe, was die Gehälter der Einheimischen um rund 3,2 Prozent nach unten drückte.“

Seit Beginn des 21. Jahrhunderts liegt der Nettozuwachs durch Zuwanderung bei etwa 350.000 Personen jährlich, von denen ein Großteil aus außereuropäischen Ländern stammt. 200.000 kommen als Arbeitskräfte oder über die Familienzusammenführung, 50.000 als Asylbewerber, und weitere 80.000 sind in Frankreich geborene Kinder ausländischer Eltern. Wenn die Zahl der Einbürgerungen weiterhin jedes Jahr um 150.000 zunimmt, dürfte um 2050 ein gutes Drittel der französischen Bevölkerung einen Migrationshintergrund haben.

Offiziellen Angaben zufolge lebten 2008 in regulären Haushalten fünf Millionen Ausländer, acht Prozent der französischen Bevölkerung. Die Zahl derjenigen mit mindestens einem ausländischen Elternteil betrug 6,5 Millionen (elf Prozent). Hinzu kommen illegale Zuwanderer, deren Zahl auf 300.000 bis 500.000 Personen geschätzt wird. Ihre Ausweisung kostet den französischen Staat 232 Millionen Euro im Jahr, das sind 12.000 Euro pro Rückführung. 

Jean-Paul Gourévitch schätzt die ausländischstämmige Bevölkerung sogar auf 7,7 Millionen (12,2 Prozent), von denen 3,4 Millionen aus dem Maghreb und weitere 2,4 Millionen aus Schwarzafrika stammen. 2006 lag deren Anteil an der Geburtenrate bei 17 Prozent. Für den privaten Sektor mag diese Einwanderung mehr Gewinn einbringen, als sie ihn kostet. Im öffentlichen Sektor hingegen überwiegen die Kosten bei weitem einen wie auch immer gearteten Nutzen.

Tatsächlich lassen die Gesamtkosten der derzeitigen Einwanderungspolitik sich recht genau beziffern. Nach Berechnungen des französischen Steuerzahlerbundes liegen sie bei 79,4 Milliarden Euro im Jahr, wovon fast drei Viertel (58,6 Milliarden Euro) im Sozialwesen anfallen. Die Einnahmen aus direkten und indirekten Steuern betragen 48,9 Milliarden. Daraus ergibt sich ein Verlust von 30,4 Milliarden Euro (1,56 Prozent des Bruttoinlandsprodukts). Dabei sind freilich die nichtfinanziellen Kosten noch gar nicht berücksichtigt. Gourévitch bilanziert die Gesamtkosten der französischen Einwanderungspolitik daher sogar auf 38,3 Milliarden. Dies entspräche knapp zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. 

Daß derzeit ein Großteil der Zuwanderung über die Familienzusammenführung erfolgt, ändert nichts an ihrer Funktion als Reservearmee des Kapitals. Insofern ist es immer wieder erstaunlich, mit welchem Eifer die Ultra-Linke, die in den „sans-papiers“, den „papierlosen“ Einwanderern ohne legale Aufenthaltsgenehmigung, ein Ersatz-Proletariat wähnt, sich den Interessen der Arbeitgeber andient. Mafiöse Organisationen, Schleuser- und Schmugglerbanden, Großindustrielle, „humanitäre“ Aktivisten, Unternehmer, die Schwarzarbeiter beschäftigen – alle kämpfen sie Schulter an Schulter für eine Welt ohne Grenzen.

In ihren globalisierungskritischen Manifesten „Empire“ und „Multitude“ forderten Michael Hardt und Antonio Negri eine „Weltbürgerschaft“ und die Abschaffung von Grenzen. Der unmittelbare Effekt derartiger Maßnahmen wäre eine Überschwemmung des Arbeitsmarktes mit Billigarbeitskräften aus Schwellen- und Entwicklungsländern.

Ebensowenig stören sich die beiden Autoren daran, daß die Entwurzelung der meisten Migranten durch die globale Marktwirtschaft mit ihren andauernden Standortverlagerungen entsteht und als solche vom Kapitalismus durchaus gewollt und erwünscht ist: Entwurzelte Menschen sind bessere Marktteilnehmer. Statt sich zu vergegenwärtigen, daß die Sehnsucht, sich irgendwo zu Hause zu fühlen, zu den menschlichen Grundbedürfnissen zählt, freuen Hardt und Negri sich auch noch darüber, daß „das Kapital selber eine zunehmende Mobilität der Arbeitskräfte und ständige Migrationen über nationale Grenzen hinweg geschaffen hat“.

Den Weltmarkt sehen sie als den natürlichen Rahmen der „Weltbürgerschaft“. Weil er einen „glatten Raum nicht-kodierter, deterritorialisierter Ströme benötigt“, dient er nach Meinung der Autoren den Interessen der Multitude, der „Vielheit“ von Weltbürgern, denn „die Mobilität fordert dem Kapital einen Preis ab, nämlich das tausendfach verstärkte Verlangen nach Befreiung“.

Problematisch ist an dieser Apologie der Entwurzelung als wesentliche Voraussetzung eines befreienden „Nomadentums“, daß sie auf einer vollkommen unrealistischen Vorstellung der konkreten Lebensbedingungen von Zuwanderern und Flüchtlingen beruht.

 Wer den Kapitalismus kritisiert und die Einwanderung befürwortet, dem die Arbeiterklasse als erstes zum Opfer fällt, täte besser daran, den Mund zu halten – wer die Einwanderung kritisiert, ohne den Kapitalismus zu erwähnen, ebenfalls.

 

Alain de Benoist, Jahrgang 1943, ist Philosoph, Publizist und Herausgeber der französischen Kulturzeitschrift Nouvelle École. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über das französische Burka-Verbot („Ein Verbot sorgt für Ordnung“, JF 2/11).

Foto: „Multikulti“unter der Trikolore: Die starke schwarz-afrikanische Einwanderung nach Frankreich ist dem kolonialen Erbe geschuldet

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