© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/11 04. Februar 2011

„Der Protest ist heterogen“
Aufstand in Arabien: Fragen an den Nahost-Experten Peter Scholl-Latour
Christian Vollradt

In Tunesien wurde der Diktator Ben Ali gestürzt, nun wendet sich der Zorn gegen den ägyptischen Potentaten Husni Mubarak. Trifft die These vom Dominoeffekt zu, oder ist die Ausgangslage in den Ländern zu unterschiedlich?

Scholl-Latour: Die Lage ist in der Tat eine vollkommen andere, die arabischen Länder sind sehr unterschiedlich und zum Teil sogar miteinander verfeindet. Aber wir wissen noch nicht, was in Tunis herauskommen wird, und wir wissen noch nicht, wie sich die Situation in Kairo entwickelt. In Tunesien wurden die Proteste vor allem von der städtischen Mittelschicht getragen, in Ägypten könnte sich auch das breite Volk beteiligen. Die These, daß es sich um eine „Revolte der Aufklärung“ handele, trifft jedenfalls nicht zu.

Manche Beobachter vergleichen die aktuellen Vorgänge mit denen des Jahres 1989: Damals wurden die sozialistischen Systeme hinweggefegt, jetzt erleben wir das Ende des arabischen Nationalismus.

Scholl-Latour: Der arabische Nationalismus, wie ihn der damalige ägyptische Staatspräsident Gamal Abd al-Nasser verkörperte, ist doch schon längst tot. Er ging 1967 mit der Niederlage im Sechstagekrieg gegen Israel unter. Dieser Nationalismus war auch gänzlich unislamisch, denn der Koran kennt keine Nationen, sondern nur die Umma, die Gemeinschaft aller Muslime. Gäbe es wirklich noch so etwas wie den arabischen Nationalismus, hätte das doch auch eine viel stärkere Solidarisierung der arabischen Staaten mit den Palästinensern bewirkt.

Welche Rolle spielen angesichts der Unruhen islamistische Bewegungen, insbesondere die Muslimbrüder in Ägypten?

Scholl-Latour:  Man muß da unterscheiden und darf jetzt nicht alle islamischen Parteien in einen Topf werfen. Die Muslimbrüder in Ägypten waren sehr vernünftig geworden. Nehmen Sie zum Beispiel in Kairo die Anwaltskammer, die Ärztekammer oder die Handelskammer: Dort haben sich in freien Wahlen überwiegend die Muslimbrüder durchgesetzt, das waren aber keine Terroristen. Man kann nicht jede islamische Partei von vornherein als terroristisch abstempeln. Der gefährlichste Staat in dieser Hinsicht ist ganz klar Saudi-Arabien, hier herrscht ein völlig übertriebener Islam, und von hier geht eine viel größere Bedrohung für den Westen aus als zum Beispiel von Afghanistan.

Halten Sie es für möglich, daß sich der Konflikt noch ausweitet?

Scholl-Latour: Mubarak wird nicht bleiben können, er hätte sich sowieso ohne die Unterstützung des Westens schon nicht mehr halten können. Seine Herrschaft, die nach der Ermordung Anwar as-Sadats 1981 begann, gehört der Vergangenheit an.

Wie sieht es mit anderen Staaten des Maghreb aus?

Scholl-Latour: Marokko ist ein Sonderfall. Die soziale und wirtschaftliche Situation ist vergleichbar. Aber das Land hatte immer eine gewisse Eigenständigkeit, es gehörte nicht zum osmanischen Sultanat, und der König hat hier als Kalif auch neben der politischen eine sakrale Bedeutung. Marokko steht zur Zeit nicht auf dem Programm, sondern Algerien. Hier hatte ja bereits 1992 eine islamische Partei die freien Wahlen gewonnen; der Wahlsieg wurde vom Militär vereitelt, seitdem haben wir hier ein Militärregime, und der Westen hat „Bravo“ geschrieen.

Der Westen führt also Demokratie und Menschenrechte auf den Lippen und stützt in Wahrheit Despoten, wenn sie nur prowestlich sind.

Scholl-Latour: Ja, man hört schon Stimmen in Deutschland, die darauf hindeuten, daß die schlimmste Katastrophe freie Wahlen wären, aus denen möglicherweise die Muslimbrüder als stärkste Partei hervorgehen.

Halten Sie das für möglich?

Scholl-Latour: Ich glaube nicht, daß sie die absolute Mehrheit bekämen, aber sie würden wohl die stärkste Partei werden. Der im Westen als Oppositionspolitiker prominente Mohammed el Baradei ist ein ehrenwerter Mann, aber ein Fellache im Nildelta kennt ihn sicherlich gar nicht.

Welche Auswirkungen könnte dies im Nahen Osten haben?

Scholl-Latour: Für Israel entsteht dann eine sehr schwierige Situation. Im Grunde hat ja Mubarak die Fraktion der moderaten Palästinenser um Mahmud Abbas gestützt. Eine neue Regierung wäre wahrscheinlich gegenüber der radikalen Hamas aufgeschlossener. Bisher hat auch Ägypten ein Interesse gehabt, den Waffenschmuggel über die Grenze zum Gaza-Streifen zu unterbinden.

Es ist bereits die Rede von einer „Facebook-Revolution“. Wird die Bedeutung des Internets für die Erhebung übertrieben?

Scholl-Latour: Gerade in Tunesien hat das Internet schon eine große Rolle gespielt. Ohne dies wäre das Aufbegehren nicht möglich gewesen, es ist ein neues Element der Mobilisierung eingeführt worden. Der Protest ist sehr heterogen. Es gibt durchaus Kräfte, die eine westliche Form der Demokratie dort einführen wollen, das soll man nicht unterschätzen.

 

Prof. Dr. Peter Scholl-Latour ist Journalist und Nahost-Experte. Zuletzt veröffentlichte er den Titel „Die Angst des Weißen Mannes“. 

 

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