© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/11 07. Januar 2011

Pankraz,
F. Nicolai und der Blutegel am Gesäß

Lächerlichkeit tötet, sogar noch postum. Deshalb hat es Friedrich Nicolai (1733–1811), der einst hochberühmte Berliner Buchhändler und „Aufklärer“, so schwer, in der kollektiven Erinnerung je auf die Beine zu kommen. Alle Erinnerungsspezialisten sagen sich: „Ach, das war doch der, der alle kreativen Einfälle vermeiden wollte, indem er sich Blutegel an den Hintern klebte! Hat sich damit furchtbar lächerlich gemacht. Der hat jetzt am 8. Januar zweihundertsten Todestag. Sollen wir ihn feiern? Lieber nicht.“

Natürlich wollte sich Nicolai mit seiner rückwärtigen (übrigens nach Auskunft aller Medizinhistoriker sehr schmerzhaften) Therapie nicht von „kreativen Einfällen“ kurieren; diesen Begriff gab es damals noch gar nicht. Was ihm Pein machte, das waren „Phantasmen“, wie er es nannte, schlechte Tagträume, Trugbilder, Wortgespenster, Halluzinationen. Dagegen also setzte er sich Blutegel auf den Hintern, und er schrieb auch darüber und empfahl seinen Gegnern, all den Stürmern und Drängern und Romantikern von Herder und Goethe bis zu den Schlegels, die gleiche Operation.

Alsbald erhob sich in der literarischen Szene homerisches Gelächter. Goethe verewigte den „Steißgeisterseher“ (Proktophantasmist) in der Walpurgisnacht seines „Faust“, Schiller verhöhnte ihn in den „Xenien“ als „Nickel, den Leerkopf und Afterphilosophen“. Herder nannte ihn eine Inkarnation des „Baphomet“, jenes scheußlichen Aftergottes, den angeblich – nach Auskunft der Inquisition, die sie folterte – die Tempelritter im Mittelalter angebetet haben. Nicolais Renommee hat sich nie wieder von den Schlägen erholt.

Dazu mag auch beigetragen haben, daß Nicolai, wie die meisten übrigen „Aufklärer“, ein großer Geheimnistuer und Geheimnisstifter war. Ständig gründete er geheime Zirkel oder gleich ganze Geheimgesellschaften, gehörte mehreren Freimaurerlogen gleichzeitig an und galt als der führende Illuminat von Berlin.  Um so merkwürdiger dann, daß er in den theologischen und literarischen Debatten der Zeit  einem gänzlich kahlen Rationalismus huldigte und die menschliche Seele für nichts weiter als eine aufgezogene Uhr hielt, die fühllos von einer Ziffer zur anderen forttickt.

Festen, haltbaren Ruhm verschaffte sich Nicolai mit seiner Tätigkeit als rühriger Buchhändler und Zeitschriftenherausgeber. Noch in jungen Jahren, nachdem er den väterlichen Betrieb übernommen hatte, gründete er die legendäre „Allgemeine deutsche Bibliothek“; dort wurden über Jahre hin an die 150 Mitarbeiter beschäftigt, die alle wichtigen Veröffentlichungen der Zeit sorgfältig anzeigten und rezensierten. Zwischen 1759 und 1765 gab Nicolai zusammen mit Lessing die „Briefe, die neueste Literatur betreffend“ heraus, deren insgesamt 24 Teile speziell das deutsche Theater tief beeinflußt haben.

„Baphomet“ war aber nicht nur Verleger und Herausgeber, sondern mischte sich stets auch als Essayist und Kritiker energisch und äußerst meinungsfreudig in das literarische Geschehen ein. Er ließ sich von keiner Autorität einschüchtern (was sehr für ihn spricht) und fand überhaupt nichts dabei, gegebenenfalls als einziger gegen den „Mainstream“ anzuzappeln. Besonders interessant für Historiker sind seine großen Reiseberichte, die viele genaue geographische, wirtschaftliche und kulturelle Beobachtungen enthalten.

Seufzend registriert der Leser freilich, daß auch diese Reisereportagen geradezu strotzen von wilder „aufklärerischer“ Polemik und süffisanter Besserwisserei. Es geht gegen Quietisten, Pietisten, Orthodoxe – und immer wieder und vor allem gegen die damals machtvoll sich formierende deutsche Klassik (inklusive der Romantik), gegen Goethe, Wieland, Jacobi, Lavater, Kant, Hegel, Fichte, Schelling, die Schlegels, Tieck. Alle diese Meister produzieren in den Augen Nicolais nichts als „Phantasmen“, sind lediglich reif für die Blutegel.

Er läßt sich an keiner Stelle genauer auf sie ein, prüft nicht ihre geistigen Voraussetzungen, wägt nicht ihre Argumente sorgfältig gegen die eigenen ab. Sondern er macht sich einfach über sie lustig, und zwar auf fadester Grundlage. Man lese seine Parodie auf Goethes „Werther“, „Die Freuden des jungen Werther“! Da ist nicht die Spur von Esprit und wahrer Ironie, keine Erfindungskraft, immer nur banale Umkehr des von Goethe Geschriebenen. Aus Minus wird Plus, aber ein Plus ohne Sinn und Verstand.

Höchst verdrießlich auch der Umgang mit Kant. An sich könnte man ja erwarten, daß ihm, dem Verächter jeglichen Gefühls, Kants energisch kritische Methode zusagte. Aber nichts davon. Für die Kantsche Sphäre der Transzendentalität, in der allein sowohl theoretische wie praktische Vernunft ihren archimedischen Punkt finden können, zeigt er nicht das geringste Verständnis. Auch die souveräne Kraft des menschlichen Verstandes, wissenschaftliche Gesetze zu errechnen und moralische Postulate aufzurichten, ist ihm nichts als „Phantasma“. 

Heinrich Heine nannte Nicolai einen „schlechten Schriftsteller“, konstatierte aber auch, daß er ein „grundehrlicher Mann“ gewesen sei, der „um der Wahrheit willen sogar das schlimmste Martyrium des Lächerlichwerdens nicht scheute“. Nun, lächerlich hat sich Nicolai tatsächlich gemacht, aber war er wirklich ein durch und durch schlechter Dichter? Soeben ist bei Ullstein eine Neuauflage seines frühen Schelmenromans „Leben und Meinungen des Herrn Magisters Sebaldus Nothanker“ erschienen, und die Lektüre stürzt Pankraz in einigen Zweifel.

Da ist plötzlich so viel wohlformulierter Witz und so viel rokokohafte Anmut, daß man richtig ins Schwärmen geraten könnte und plötzlich auch versteht, warum sich Lessing so gut mit Nicolai verstand. Freilich war dieser damals noch ziemlich jung, wie auch als er den „Nothanker“ schrieb. Die Blutegel kamen später, und ihr Einsatz erwies sich als kontraproduktiv. Dennoch reicht der „Nothanker“ für den abschließenden Ruf: „Gerechtigkeit für Friedrich Nicolai!“

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